"Es ist von Vorteil, im Herzen Europas zu liegen"

Stefan Gerlach war Vize-Chef der irischen Notenbank. Heute ist er Chefökonom der Schweizer Bank BSI. [
Stefan Gerlach war Vize-Chef der irischen Notenbank. Heute ist er Chefökonom der Schweizer Bank BSI. [(c) Stanislav Jenis
  • Drucken

Verkehr, Kultur, geografische Lage: Wien hat im Rennen um Banken gute Karten, sagt der Ökonom Gerlach.

Die Presse: Eine Frage vorweg. Wird der Brexit wirklich geschehen oder nicht?

Stefan Gerlach: Ja, der Brexit wird passieren. Und ich glaube auch, dass das einen Einfluss auf den Finanzsektor in London haben wird. Einige Banken werden gehen. Aber ich nehme nicht an, dass sie sich jetzt alle zusammentun und sagen: auf nach Paris! Oder: auf nach Frankfurt! Die Realität ist komplizierter. Sie werden sich verteilen. Man muss sich als Bank überlegen: Wo finde ich Büros für 2000 Menschen? Wie viele Quadratmeter brauche ich? Was ist auf dem Markt? Was wird das kosten?

Sie selbst haben lang in Dublin gearbeitet. Ist das nicht der logische Kandidat?

Ich glaube, dass die praktischen Fragen oft unterschätzt werden. Es ist nicht ganz einfach, eine Bank zu übersiedeln. Dublin hat einen explodierenden Immobilienmarkt und praktisch keinen Mietmarkt. Wer nach Dublin zieht, muss eine Wohnung oder ein Haus kaufen. Die Verkehrsstaus sind schlimmer als in Kuala Lumpur. In Sachen Infrastruktur ist Dublin keine einfache Stadt zum Leben. Es ist auch keine große Metropole wie London oder Paris. Es gibt nicht viel zu tun. Klar, einige Institute werden hinziehen. Und es hat seine Vorteile. Dublin ist englischsprachig, es herrscht englisches Recht und Irland ist in der Eurozone.

Was ist mit Paris?

Paris ist fantastisch, wenn man verheiratet ist. Der Partner oder die Partnerin kann dort einen Job finden. Es gibt Tausende Dinge zu tun für die Familie: Museen, Parks. Es gibt Schulen für die Kinder. Paris ist eine große Stadt, und wer in London lebt, kann am Anfang sogar pendeln – mit dem Eurostar.

Der Immobilienmarkt ist aber auch heiß.

Ja, und es gibt Arbeitsgesetze, die es schwer machen für Banken. Das könnte Paris unattraktiv machen. Das könnte aber genauso für Frankfurt gelten. Auch das deutsche Arbeitsrecht ist nicht sehr flexibel. Auf dem Finanzsektor gibt es viel Fluktuation. Viele Menschen kommen und gehen, wechseln die Jobs oder fliegen sogar raus, weil die Leistung nicht passt. Ja, die Gehälter sind hoch. Aber es ist auch sehr einfach, seinen Job zu verlieren.

Wir sitzen gerade im ersten Bezirk. Hat die österreichische Hauptstadt eine Chance, sich als Finanzplatz zu profitieren?

Wien hat eine Reihe von Vorteilen. Es ist eine große Stadt. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind fantastisch. Das ist sehr, sehr wichtig. Als ich noch in Irland in der Zentralbank gearbeitet habe, habe ich circa 15 Minuten mit dem Auto von der Bank entfernt gewohnt. Theoretisch. Praktisch war ich zu Fuß viel schneller, als ich es je mit dem Auto war. Auch die Straßenbahn ist schlecht ausgebaut. Hier gibt es die überall. Es gibt in Wien auch eine Menge gut ausgebildeter Menschen, viele sprechen perfektes Englisch. Und die Lebensqualität ist groß. Wie die Lage mit den Arbeitsmarktgesetzen ist, kann ich aber nicht einschätzen. Wien muss seine Stärken unterstreichen: die Lebensqualität, das Verkehrssystem, das große kulturelle Angebot, die Museen, die englischsprachigen Schulen.

Was können die Städte tun, um sich attraktiv zu machen?

Es braucht einen flexiblen Arbeitsmarkt, der es den oberen Managern erlaubt, relativ rasch in den Job zu kommen und auch rasch wieder zu gehen. Es ist auch wichtig, dass die Mitarbeiter sich rasch zurechtfinden können. Es braucht Stellen, die bei der Suche nach englischsprachigen Schulen helfen können. Wenn Sie als Stadt dieses Business anlocken wollen, müssen sie Ressourcen investieren. Sie müssen ein Büro eröffnen, das die Anstrengungen bündelt und als Anlaufstelle dienen kann. Es braucht auch einen Pool an Talenten. Das ist ein Vorteil für eine Stadt wie Wien, in der es gute Universitäten gibt. Große Städte sind da im Vorteil.

Was ist mit Hamburg? Oder Barcelona? Oder sogar einer Stadt in Skandinavien?

Man darf die Bedeutung der Location innerhalb Europas auch nicht vergessen. Nehmen wir noch einmal Dublin: Das liegt ziemlich außerhalb. Da ist sogar eine Stunde Zeitverschiebung zum Kontinent. Wer um neun Uhr bei einem Frühstücksmeeting in Europa sein will, muss vor sechs in der Früh im Flugzeug sitzen. Aus demselben Grund werden sich die Städte in Skandinavien schwertun. Oder Barcelona, Lissabon und Madrid. Sie liegen zu weit weg. Es ist von Vorteil, im Herzen Europas zu liegen.

ZUR PERSON

Stefan Gerlach war vier Jahre lang einer von zwei stellvertretenden Gouverneuren der irischen Notenbank, bevor er Anfang dieses Jahres als Chefökonom zur Schweizer Privatbank BSI gewechselt ist. Die BSI wurde 1873 gegründet und gilt als eine der ältesten Banken in der Schweiz. Vor seinem dortigen Engagement war Gerlach bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel und bei der Hong Kong Monetary Authority tätig. Stefan Gerlach war Ende Oktober auf Einladung der Merito Financial Solutions in Wien – um die Keynote bei der jährlichen Investorenkonferenz zu halten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Leitartikel

Wien muss nicht London werden, etwas mehr Zürich reicht schon

Ob Österreich vom Brexit profitieren kann, ist offen. Klar ist aber, dass es bei der Standortattraktivität etwa im Vergleich zur Schweiz Nachholbedarf gibt.
Österreich

Amsterdam, Frankfurt, Wien

Die „New York Times“ hat ein Ranking der möglichen neuen Finanzzentren erstellt: Amsterdam gewinnt, Wien landet auf Platz drei.
Österreich

Wien - der Kompromisskandidat?

Viele Banken wollen London verlassen. Kann Wien im Kampf um sie profitieren?
International

Frankreich rechnet mit Abzug von US-Banken aus London

Dass die großen US-Banken aus London abwandern, hält Frankreichs Finanzminister Michel Sapin für unausweichlich. Neben Frankreich machen sich auch Frankfurt und Wien Hoffnungen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.