Gewaltvideos: Alles für ein bisschen Aufmerksamkeit

„Happy Slapping goes wrong“: Zwei Männer greifen ein vorbeigehendes Pärchen an, der Mann wehrt sich erfolgreich.
„Happy Slapping goes wrong“: Zwei Männer greifen ein vorbeigehendes Pärchen an, der Mann wehrt sich erfolgreich. (c) YouTube
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Sie stellen Videos ins Internet, in denen sie ihre Opfer demütigen, schlagen und vergewaltigen. Die Bereitschaft Jugendlicher, Gewalt auszuüben, hat Österreich jüngst erschüttert. Dahinter steckt meist fehlende Empathie und der Wunsch nach Anerkennung.

Großbritannien, September 2016: Vier Teenager stehen im Wald. Einer zeigt etwas auf seinem iPhone, als ihm sein Gegenüber plötzlich so fest auf den Kopf schlägt, dass er auf den Waldboden fällt. Die anderen drei johlen. Das Opfer versucht wieder aufzustehen, fällt zurück, probiert es noch einmal, nur um wieder einen wuchtigen Schlag zu bekommen. Dieses Mal bleibt er am Boden liegen. Ein Häufchen Elend in Jeans, Sneakers und grauem Pullover, das noch eine Hand zur Faust bildet, sonst bewegt er sich nicht. Trotzdem treten die anderen weiter auf ihn ein.

Deutschland, April 2014: Ein 14-Jähriger wird nach der Schule verprügelt. Immer wieder schlägt ihm der Angreifer ins Gesicht, der Bub krümmt sich, der Angreifer drischt weiter. Die Verletzungen des Opfers sind so schwer, dass er ins Krankenhaus muss. Die Mitschüler greifen nicht ein, sie filmen mit.

Wien, November 2016: Die 15-jährige Patricia wird von einer Gruppe Jugendlicher geschlagen. Vielleicht ist es die Tatsache, dass das Mädchen nur stoisch dasteht und sich nicht wehrt, oder dass die Gespräche der Angreifer so gut zu hören sind („Schatzi, zeig, was du kannst.“). Vielleicht ist es, weil Tschetschenen involviert waren und von einem Kopftuch die Rede war, weil sie Blut spuckte und danach im Spital ihr doppelter Kieferbruch operiert werden musste. Jedenfalls schaute niemand weg. Das Video wird millionenfach gesehen und Tausende Male kommentiert. Sogar Bundeskanzler Christian Kern meldet sich zu Wort. „Die Täter werden ihrer Strafe nicht entgehen. Genauso wichtig ist es aber, der Verrohung Jugendlicher (. . .) entschieden entgegenzutreten.“ Gleichzeitig wundern sich Sozialarbeiter, warum genau dieses Video die Bevölkerung so entsetzt. Denn das Phänomen ist nicht neu.

Schon vor zehn Jahren gab es Berichte darüber. „Happy Slapping“ nennt man es im englischen Sprachraum, wenn junge Menschen (manchmal von Fremden) angegriffen oder verprügelt werden – und wenn der Angriff gefilmt und nachher online gestellt wird. So wird das Opfer doppelt gedemütigt.

Zahl der Tatverdächtigen gesunken

Auch wenn uns solche Videos aufrütteln, steht fest, dass die Jugend insgesamt nicht gewalttätiger geworden ist. Die Gewalt äußert sich nur anders. Tatsächlich ist die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen bei leichter und schwerer Körperverletzung seit 2007 um mehr als 30 Prozent gesunken, wie eine Statistik des Bundeskriminalamts zeigt. Der Bewährungshilfeverein Neustart weiß von einer Handvoll Fällen, die in dasselbe Muster passen, und von zirka 30 Fällen, in denen Videos nach einem Streit (etwa unter Partnern) online gestellt wurden. Gleichzeitig lässt sich schwer sagen, was zur Anzeige kommt. Die Dunkelziffer ist gerade bei Streit unter Jugendlichen hoch. Und lässt unbeteiligte Zuseher solcher Videos ob der Brutalität schockiert zurück.

Kinderpsychologe Holger Eich sitzt an seinem Schreibtisch im Kinderschutzzentrum Wien, neben ihm ein Regal voller Fachbücher. Als Sachverständiger bei Gericht hatte er bereits mehrfach mit solchen Fällen zu tun. Meist begutachtete er die Opfer. Wenn die Täter dann vor Gericht erscheinen, erzählt er, sei er überrascht, wie jämmerlich sie wirken. Mit einer Krawatte um den Hals, um vor dem Richter besser auszusehen.

Selbstdarstellung als Antrieb

„Die Opfer“, sagt Eich, „die sind in den meisten Fällen austauschbar.“ Zwar hat die Öffentlichkeit den Eindruck, dass die Videos gemacht wurden, um die Opfer zu demütigen. Aber für die Täter gehe es in erster Linie darum, sich selbst als stark dastehen zu lassen. „Es geht um Ruhm. Wir sind Burschen und Mädels, die machen können, was wir wollen. Wir sind die Starken, wir stellen uns als großartig und unbesiegbar da“, erzählt er. Wenn man im wirklichen Leben keine Anerkennung bekommt, dann holt man sie sich so. „Man kann als Verbrecher oder Künstler bekannt werden“, fügt er hinzu. Ein Verhalten, das auch Andreas Zembaty, Sprecher des Bewährungshilfevereins Neustart, kennt. Der Verein führt bei Bedarf einen Tatausgleich durch, wenn sich Opfer und Täter einigen, bevor es zu einer Gerichtsverhandlung kommt.

Meist sei es für das Opfer sehr wichtig zu erfahren, warum ihm das angetan wurde, erzählt er. „Man hat dann doch das Gefühl, selbst etwas falsch gemacht zu haben. Vielleicht zu stark geschminkt gewesen zu sein.“ Dann werde relativ schnell klar, für den Täter war das alles nicht relevant. Die Tat nicht von langer Hand geplant. „Dahinter steckt in vielen Fällen ein mangelndes Selbstwertgefühl und ein verzweifeltes Suchen nach einer Bühne“, sagt Zembaty. Und Unwissen. Es sei ernüchternd zu sehen, wie wenig die Betroffenen sich bewusst seien, was eine Verbreitung anrichten könne. Was sowohl Sozialarbeiter als auch Psychologen zu denken gebe, sei die fehlende Opferempathie. Wenn Angreifer auf ihr Opfer hintreten, obwohl es schon am Boden liegt, wenn sie weiterschlagen, obwohl schon Blut fließt.

Erlernt wird Empathie in frühester Kindheit. Oft genug seien die Täter selbst Opfer und umgekehrt. Auch steckt hinter den Angreifern nicht immer das verwahrloste Kind aus der armen Familie. „Ich kenne auch Kinder aus reichen Familien, die solche Videos machen“, sagt Psychologe Eich. In der Gruppe wird die Gewalt dann legitimiert, die Verantwortung auf alle verteilt. Er vergleicht es mit Krieg. „Da passieren die schlimmsten Sachen. Offenbar ist das Böse in der Gruppe leicht zu entfesseln.“ Auch Situationen, in denen speziell Jugendliche in der Gruppe zu anderen grausam sind, hätte es schon immer gegeben.

Vorbilder im Alltag gibt es genug, findet Zembaty von Neustart. Wenn im Reality-Fernsehen Menschen gedemütigt werden, sei das ein ähnliches Muster. Ihn hätten auch die Hasskommentare unter dem Video schockiert. „Das ist ja genau die gleiche Aggression, die die Kinder reproduzieren.“ Denn eines ist klar, ohne die Bereitschaft von Zusehern, sich für das Video zu interessieren, funktioniert es nicht. Fabian Reicher vom Jugendzentrum Back Bone sieht gerade das Herzeigen des Videos als Problem. „Wer in einer ähnlichen Situation ist, wird zum Nachahmen animiert.“ Er hält die Aufmerksamkeit, die das Video bekommen hat, für unverhältnismäßig. „In Syrien werden Menschen umgebracht, und hier denkt sich ein Nachahmer, was kann ich erreichen.“ Er plädiert dafür, weder Name noch Video zu zeigen, so wie es in Frankreich manche Zeitungen bei Attentaten handhaben. Dass Facebook das Video nicht sofort gelöscht hat, ärgert ihn: „Ein gewinnorientiertes Unternehmen regelt das Zusammenleben.“

Lehrstelle gefunden

Aber hat es dem Opfer geschadet? Patricias Anwältin Astrid Wagner berichtet indes begeistert, dass das Mädchen – das selbst schon gewalttätig geworden sein soll – ein Angebot für eine Lehrstelle bekommen habe. „Die positive Wirkung überwiegt“, sagt sie auf die Frage, ob man das Video nicht sofort offline nehmen hätte müssen. „Wenn man Social Media richtig einsetzt, ist das ein Vorteil.“ Und erinnert an einen Fall, wo eine Mutter in einem Sorgerechtsstreit Recht bekam. „Ohne die Öffentlichkeit“, sagt sie, „hätte das nicht funktioniert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2016)

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