EU: Vor Stopp der Beitrittsgespräche mit der Türkei

Europa blickt skeptisch in Richtung Türkei.
Europa blickt skeptisch in Richtung Türkei.(c) REUTERS (MURAD SEZER)
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Das Europaparlament verliert die Geduld mit Staatschef Erdoğan und fordert ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen. Der Türkei drohen Milliardenverluste.

Straßburg. Die jüngste Entwicklung in der Türkei wird von europäischer Seite nicht ohne Konsequenzen bleiben. Während einige EU-Regierungen zuletzt noch gezögert hatten, fordert nun das Europaparlament offen eine Suspendierung der Beitrittsverhandlungen. „Wir wollen der türkischen Regierung ein klares Signal geben“, so der Fraktionschef der Sozialdemokraten, Gianni Pittella. In den meisten politischen Gruppen des EU-Abgeordnetenhauses ist die Geduld mit der türkischen Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Ende. „Demokratie und Rechtsstaat drohen eingeschränkt zu werden, die EU muss jetzt reagieren“, argumentiert denn auch der Chef der größten Fraktion, der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU).

Erst diese Woche hat die türkische Regierung ihre Säuberungswelle fortgesetzt. Mit einem am Dienstag veröffentlichten Notstandsdekret wurden 9977 Angehörige der Sicherheitskräfte und 5419 Staatsbedienstete entlassen. Außerdem wurde die Schließung von 375 Instituten, 18 Wohltätigkeitseinrichtungen und neun Medien verfügt. Insgesamt wurden nach dem Putsch bereits 110.000 Staatsbedienstete entlassen, in mehreren Verhaftungswellen ging die Regierung gegen oppositionelle Politiker und Journalisten vor.

„Die Türkei bewegt sich von den Werten der EU, von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten weg“, kritisiert ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas. Der langjährige EU-Abgeordnete, der einst für einen Start der Beitrittsverhandlungen mit Ankara eingetreten war, warnt allerdings auch davor, die Gesprächsbasis völlig zu zerstören. Ankara müsse gedrängt werden, zu europäischen Werten zurückzukehren. Es müsse Beobachter bei Gerichtsverfahren zulassen und eine Änderung seines Antiterrorgesetzes ermöglichen.
Die Resolution, über die am Donnerstag im EU-Parlament abgestimmt wird, kann nur den politischen Druck zur Suspendierung der Beitrittsverhandlungen verstärken. Eine Zustimmung galt am Dienstag bereits als sicher, auch wenn über einzelne Formulierungen noch diskutiert wurde. Entscheiden muss die Suspendierung letztlich der Rat der EU (Gremium der EU-Regierungen). Für die Abstimmung im Rat reicht nun eine qualifizierte Mehrheit aus.

Berlin befürchtet, dass eine Suspendierung der Beitrittsverhandlungen den Flüchtlingsdeal mit Ankara infrage stellen könnte. Nicht ohne Grund: Denn Erdoğan hat mehrfach gewarnt, er könnte wieder Hunderttausende Flüchtlinge in Richtung EU in Bewegung setzen. SPÖ-Europaabgeordneter Eugen Freund erinnert allerdings daran, dass es auch nicht im Sinne der Türkei wäre, sollte das Abkommen tatsächlich infrage gestellt werden. Denn die EU leiste derzeit erhebliche finanzielle Hilfe bei der Versorgung der Flüchtlinge. „Wir sollten nicht vergessen: Die Türkei braucht auch Europa.“

Im Falle einer Suspendierung der Beitrittsgespräche muss Ankara mit finanziellen Verlusten rechnen. Denn die Beitrittsverhandlungen sind mit der Überweisung von Vor-Beitrittshilfen verknüpft. Ankara stehen laut dem EU-Haushaltsplan Förderungen von 4,45 Milliarden Euro in den Jahren 2014 bis 2020 zu. Die Gelder gehen an Projekte zur Stärkung der Infrastruktur, in die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, aber auch in soziale Initiativen und in den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen.
So sind etwa 1,5 Milliarden Euro für Anpassungen im Justizsystem vorgesehen. „Es muss nun genau geprüft werden, wohin Gelder künftig noch fließen“, so die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Ulrike Lunacek. Die grüne EU-Abgeordnete würde es befürworten, wenn Hilfen für die Zivilgesellschaft bestehen blieben, aber etwa Projekte der Erdoğan nahestehenden Baukonzerne keine EU-Gelder mehr erhielten.

Neue Attacken auf Kern

Indessen hat der türkische Europaminister Ömer ?elik Bundeskanzler Christian Kern „antitürkische Rhetorik“ und Islamophobie vorgeworfen. Damit fördere er rechtsextreme Gefühle. ?elik bezog sich offenbar auf Forderungen Kerns, angesichts der Repression in der Türkei die Beitrittsgespräche zu stoppen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2016)

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