Alle Bürger sind dumm

Im EU-Bunker: Eine Institution in der Legitimationskrise will ihren Kritikern die Legitimation absprechen.

Europa-Kritiker und Israel-Kritiker haben eines gemeinsam: Sie müssen damit rechnen, dass ihre Kritik als Vorwand für ihr angeblich eigentliches ideologisches Anliegen denunziert wird: den Nationalismus bzw. Antisemitismus. In der allgegenwärtigen ideologischen Verdachtskultur wird zwischen diesen beiden „Delikten“ auch gar nicht unterschieden: Nationalisten, die kein vollständiges Glaubensbekenntnis zur Europäischen Union ablegen, sind in den Augen einer offiziösen EU-Propaganda ohnehin nur versteckte Nazis.

Wenn man dann auch noch das Glück hat, irgendeinen österreichischen Politidioten zu finden, der die Gefahren eines israelischen EU-Beitritts zum Thema macht, ist der Fisch schon geputzt.

Wer auf Immunisierungsstrategien dieser Art angewiesen ist, hat in der Regel ein Problem. Das gilt für den Staat Israel und einen Teil der jüdischen Gemeinden in aller Welt – zum Beispiel Wien – genauso wie für die Europäische Union. Auf Dauer funktioniert der Versuch, Kritik an der gegenwärtigen Politik durch die geschichtspolitische Denunziation der Kritiker abzublocken, einfach nicht.

Wer Israel-Kritiker als Antisemiten denunziert und Europa-Kritiker als Blut-und-Boden-Trolle, die die Lehren des 20.Jahrhunderts nicht verstanden haben, sagt letztlich mehr über sich als über die Kritiker aus: dass er nämlich mit seinem Latein am Ende ist.

Das europäische Gemurkse rund um den Lissabon-Vertrag ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie die offiziellen und die offiziösen Vertreter einer Institution, die aus eigenem Verschulden in eine Legitimationskrise geschlittert ist, ihren Kritikern die Legitimation absprechen wollen. Gelegentlich bekommt man den Eindruck, es handle sich um ein Virus, mit dem man sich ansteckt, wenn man eine gewisse Zeit in oder mit den europäischen Institutionen verbringt: Wer nicht bedingungslos zustimmt, ist ein bornierter Nationalist.


In der österreichischen Diskussion wird diese Zuschreibung naturgemäß um eine obrigkeitsstaatliche Facette erweitert: Wer sich erfrechte, über den Lissabon-Vertrag per Volksabstimmung mitreden zu wollen, wurde mit der Tatsache konfrontiert, dass er nicht ein bornierter Nationalist sei, sondern ein dummer bornierter Nationalist. In Österreich hat man sich nicht deshalb gegen eine Volksabstimmung entschieden, weil man einen allfälligen Sieg der bornierten Nationalisten befürchtet hat, sondern, weil man der Ansicht war, dass eine Abstimmung die intellektuellen Kapazitäten der Mehrheit der Staatsbürger überfordern würde. In sich ist das wieder logisch: Wenn alle Bürger dumm sind, steigt natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass die dummen bornierten Nationalisten eine Mehrheit kriegen.

Diese Zeitung war und ist der Meinung, dass der Vertrag von Lissabon in seiner Gesamtheit einen Fortschritt für die Europäische Union darstellt. Aber es gibt nicht viele gute Argumente dagegen, dass über Fragen wie das Abgehen von einstimmigen Entscheidungen, die einen markanten Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten bedeuten, Volksabstimmungen abgehalten werden.


Es gibt gute Gründe, keine Volksabstimmung durchführen zu müssen, wenn man sich auf die verfassungsrechtliche Position zurückzieht, dass es seit dem Beitritt zur EU eine „Gesamtänderung“ der Verfassung nicht mehr geben kann. Und es ist auch legitim, gegen eine Volksabstimmung zu sein. Aber die Begründungen der Regierungsparteien waren einfach nur eine Beleidigung der Bürger.

Dass der Präsident des Verfassungsgerichtshofs darauf in seiner Rede beim Verfassungstag hingewiesen hat, ist zwar ungewöhnlich, weil er sich dabei weit auf das Feld der (Partei-)Politik vorgewagt hat. Aber es war wichtig, weil seine Intervention den Regierenden in Zukunft etwas mehr Argumentationskraft abnötigen wird, wenn sie sich der öffentlichen Debatte entziehen wollen. Es wird für sie nicht mehr so leicht sein, sich den Mühen der Überzeugungsarbeit durch die Entmündigung der Bürger zu entziehen.

Bevor die Spindoktoren des Kanzlers jetzt in ihren Haus- und Hofpostillen eine kleine „Faymann von VfGH-Präsident rehabilitiert“-Kampagne lancieren, sollten sie einen kleinen Blick in die Archive riskieren: Der damalige Kanzlerkandidat war nicht für seine Forderung nach Volksabstimmungen kritisiert worden. Die war und ist, anders als die damalige Anbiederung eines positionslosen Opportunisten an seinen medialen Gönner, vollkommen legitim.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2009)

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