Die Liberalen als Zielscheibe: Sind sie am Populismus schuld?

Die Politik hat sich immer mit den großen, existenziellen Fragen zu beschäftigen. Doch auch sogenannte Nebenthemen betreffen Leben und Alltag der Menschen.

Die Ursachenforschung zum Anwachsen populistischer Bewegungen treibt seltsame Blüten. Schuld am Unmut der Menschen seien, so die Aussagen internationaler Blätter, die verfehlten Zielsetzungen der liberalen Eliten. Diese hätten Randthemen wie die Genderfrage, den Klimawandel, die politische Korrektheit und die Toleranz gegenüber sexuellen Orientierungen überbetont. Die Ablehnung durch die Wählerschaft sei eine gerechte Ohrfeige.

Die Vorteile dieser Schuldzuweisung liegen auf der Hand. Man schlägt mindestens drei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits erledigt man damit den Liberalismus des 19. Jahrhunderts: eine Ära der Grund- und Freiheitsrechte, des offenen Denkens, eines Modernisierungswillens und weltbürgerlichen Klimas, das z. B. Antipathien gegen Juden nicht ausbrechen ließ. Robert Musils Kakanien beschreibt eine spätere Epoche.

Mit Schuldzuschreibungen an die Eliten trifft man auch die liberalen Gruppierungen der Gegenwart. Der größte Vorteil aber ist, dass man sich lästiger Themen entledigt. Werfen wir einen Blick darauf: Kein Zweifel, das geschlechterkorrekte Verhalten in allen Lebenslagen ist mühsam. Verwendet man die politisch korrekte Rechtschreibung zu 100Prozent, können Sätze zu Bandwürmern werden. Anderseits: Ist es nicht seltsam, in der Fernsehwerbung pausenlos „Bei Risiken oder Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ nur zu hören? In den Apotheken beraten meist Frauen. Ärztinnen sind allgegenwärtig. Warum heißt es nicht: „Fragen Sie Ihren Arzt oder Ihre Apothekerin“ oder „Ihre Ärztin“? Genderfragen reizen zur Karikatur. Unverständlich sind sie nicht.

Viel schärfer ist der Vorwurf an die liberalen Eliten und ihre angeblich lebensfremde Themenwahl bei der Toleranz gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. LGBTG, das Lesbian-, Gay-, Bisexual- und Transgenderthema, ist in den USA allgegenwärtig. Ob Hillary Clinton die Unterstützung durch diese Bewegung bei der Masse der US-Wähler genützt hat, wäre zu hinterfragen. Auch bei uns stößt der Anblick händchenhaltender Männer je nach Milieu auf unterschiedliche Reaktionen. Ist Toleranz in eroticis aber wirklich nur ein Steckenpferd schriller Paraden? Man kann Nachdenklichkeit anmelden.

Ich verbrachte einen Teil meiner Kindheit in der Nähe eines Bauernhofs. Eines Tages arbeitete dort ein neuer Knecht. Am Sonntag zog sich dieser neue Knecht ein Dirndl an, setzte eine strohblonde Perücke auf, trug lange weiße Strümpfe samt rotem Strumpfband und knatterte mit seiner Puch 250 an den Kirchenbesuchern vorbei. Er musste nicht ausgegrenzt werden, er war ausgegrenzt.

Irgendein buntes Blättchen widmete ihm einen höhnischen Artikel. Manchmal wurde er ins Wirtshaus eingeladen: auf ein Freibier, aber nur, wenn er sein wahres Geschlecht zeige. Wie Felix Golub in Gerhard Fritschs „Fasching“ erlebte er jenes Landleben, das die Städter, die es nicht kennen, gern als gesund bezeichnen. Nach ein, zwei Jahren verschwand er. Der Spott über „seinesgleichen“ verlagerte sich auf andere.

Er war einer jener Ausgestoßenen, deren Leben keine Spur hinterlässt und kaum Eingang in Geschichtsdarstellungen findet.

Die Themen liberaler Eliten schreiten oft besserwisserisch einher und haben den Hang zur Volksbelehrung. Sie lösen wahrscheinlich auch nicht die großen Fragen der Weltwirtschaft. Soll man ihre Anliegen deshalb von der Tagesordnung streichen? Der Bauernknecht meiner Jugend hat niemandem etwas getan. Er hätte ein besseres Leben verdient. Die Toleranz, die dem Erzherzog Ludwig Viktor, Luzi-Wuzi, dem ab und zu Frauenkleider tragenden Bruder des alten Kaisers, entgegengebracht wurde, erlebte er nicht.

Die Themen liberaler Eliten nerven. Sie mögen neben Sozial- und Wirtschaftsfragen unbedeutend erscheinen. Doch muss man sie verteidigen, wenn sie von der Masse verhöhnt werden – von Donald Trump bis zum österreichischen Bierzelt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2016)

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