Künstlerehepaar Kabakov: "Kein Heiliger Geist mehr in der Kunst!"

(c) AP
  • Drucken

Die russischen Künstler Ilya und Emilia Kabakov zur Ausstellung „1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft?“ in der Kunsthalle Wien.

Wie haben Sie einander kennengelernt?

Emilia K.: Wir sind in der gleichen Stadt, in der gleichen Familie aufgewachsen. Er ist mein Cousin mütterlicherseits.

 

Sie sind 1973 nach Israel gegangen, Ihr Mann ist in den Achtzigern emigriert. Sie waren lange getrennt, haben Sie korrespondiert?

Emilia K.: Nein. Wir waren immer nur befreundet. Ich habe ihn schon als Kind gekannt und später in seinem Studio in Russland besucht. Als er in den Westen kam, 1989, begannen wir, gemeinsam zu arbeiten. 1992 haben wir geheiratet.


Wo ist heute Ihre Heimat: in Moskau oder in Ihrem Haus auf Long Island bei New York?

Emilia K.: Ich bin seit 37 Jahren weg aus meiner Heimat. Das ist eine lange Zeit. Heute ist Russland das Exil. Wir waren im September vier Monate für eine Ausstellung in Moskau. Es ist, als würde man 24 Stunden Champagner trinken. Die einen hungern, die anderen leben wie die Könige. Die einen fliegen für 24 Stunden nach Paris, die anderen arbeiten 24 Stunden. Viele finden auch gar keinen Job, vor allem Frauen.

 

In New York ist es auch hektisch.

Emilia K.: Sie verwechseln Geschwindigkeit mit dem Kampf ums Überleben. In New York sind die Leute schnell und nervös. Aber sie wissen genau, wo sie stehen, was morgen und übermorgen passiert. In Russland weiß das niemand. Selbst ein Milliardär kann am nächsten Tag schon ein Nichts sein.

Ilya K.: Wir hatten einen Chauffeur. Das Auto war alt. Er fuhr wie ein Verrückter. Warum? Weil die anderen noch verrückter sind. Die Fußgänger sind wie Tiere. Sie müssen springen. Es gibt in diesem Land keine Regeln. Das Chaos ist absolut. Das war immer so.


Was bedeutet 1989 für Sie?

Ilya K.: Für mich als Künstler war die Zäsur 2000. Bis dahin war die Kunstwelt wie ein jahrhundertealtes Kloster. Es gab eine klare Hierarchie. Oben die zehn bis 15 weltbekannten Museumsdirektoren, darunter die Kuratoren, auf der dritten Ebene die Künstler und darunter die Galeristen. Ich habe vorwiegend für Museen gearbeitet, als ich in den Westen kam. Wenn ich in einem Museum eine riesige Installation machen wollte, hat der Direktor gesagt: okay. Was es kostet, war kein Thema. 2000 ist der Idealismus aus dieser Pyramide entschwunden, langsam, dann immer schneller. Es gibt viele neue Leute, viele Eintagsfliegen. Die Vergangenheit ist kein Thema mehr, auch nicht die Zukunft. Das Kloster, das ich gekannt habe, ist eine Ruine. Den Heiligen Geist in der Kunst gibt es nicht mehr.

 

Wird Sie in 30 Jahren noch jemand kennen?

Emilia K.: Reden wir in 30 Jahren.

Ilya K.: Die Frage ist immer, wer bist du für die neue Generation? Bist du ein Vater oder ein Großvater? Der Vater ist ein schlechter Mann, seine Kunst ist nichts wert, er stört die Jugend, er darf keine große Rolle spielen. Bist du ein Großvater, bist du ein guter Mann, du hast immer recht, die Jungen haben gute Erinnerungen an dich. Jeder hofft, dass er ein Großvater wird. Auch ich.

 

Waren Sie jemals Kommunist?

Ilya K.: Natürlich nicht. Ich war ein Untergrundkünstler, darum hatte ich ja auch keine Ausstellungen.

 

Waren Sie in Russland Repressionen ausgesetzt wegen Ihrer Kunst?

Ilya K.: Nein. Ich war ein freier Bürger, es gab keine Bedrohung. Aber ich hatte als Künstler keine Plattform, keine Ausstellungen, keine Galerie. Wir waren ein geschlossener Zirkel. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, und abends ist mein Freund gekommen, dann haben wir geredet. Ich habe 30 Jahre dieselben Leute gesehen.


Sie haben als Kind einige Jahre im orthodoxen Wallfahrtsort Sagorsk verbracht. Hat Sie das beeinflusst in ihrem Denken?

Ilya K.: Ich bin von meinem Jahrgang, 1933, her ein Kind der Sowjetunion. Meine Eltern waren Juden, aber ich spreche weder hebräisch noch jiddisch. Der Sowjetmensch war ein zerstörerischer Mensch. Denken Sie an Stalin. Der Sowjetmensch hatte außerdem viele Gesichter, er war ein anderer für den Staat, für sich selbst und für seine Freunde. Trotzdem gab es zwei gute Dinge: Die Medizin, die umsonst war – und die Bildung: Es gab wunderbare Lehrer für die verschiedensten Disziplinen, egal ob griechische oder römisch Geschichte, Mythologie, Mathematik, Physik. Wir hatten Arbeitskreise für Musik, Literatur, bildende Kunst. Wir setzten uns zusammen und tauschten uns aus. Der Kontrast zwischen Realität und Kultur, wenn man in Städten wie Moskau oder Leningrad lebte, war frappant. Das Leben war trist, aber es gab diese Insel der geistigen Welt, der Fantasie und der Kultur.

 

Haben Sie viele Freunde in Amerika?

Emilia K.: Freunde findet man, wenn man jung ist: als Kind, als Teenager, im College, an der Universität. Später lernt man viele Menschen kennen, aber das ist Business und Arbeit. Wir leben in einem kleinen Ort auf Long Island. Die Leute sind sehr nett. Sie wissen, dass wir Künstler sind. Sie fragen oft: „Braucht ihr etwas?“ Sie helfen, wenn es kein Licht gibt oder viel Schnee.

Ilya K.: Die richtigen Freunde kann ich an einer Hand abzählen: Der Philosoph und Publizist Boris Groys gehört dazu, und dann gibt es ein paar russische Freunde. Viele habe ich aus den Augen verloren. Viele sind nach der Wende in verschiedene Richtungen gegangen. Familie habe ich nicht. Mein Vater ist früh gestorben, meine Mutter 1987, als ich bei einer Ausstellung in Bern war. Meine Frau ist meine Familie. Die Amerikaner finde ich auch sehr nett. Der Geist ist optimistisch, menschlich, freundschaftlich. Die Amerikaner lieben ihre Arbeit. Das ist ganz anders als in der Sowjetunion und auch teilweise in Europa. Ich habe das bei unserem Hausbau in Long Island mit den Handwerkern erlebt.

 

Die Amerikaner haben in Europa derzeit nicht das beste Image – nach der Amtszeit von Präsident George W. Bush, durch den Irak- und den Afghanistan-Krieg.

Ilya K.: Ich spreche vom Menschlichen. Die Amerikaner sind sehr konservativ. Ich finde das interessant und sehr gut. Sie sind fest mit ihrer Vergangenheit verbunden. Die Familie ist wichtig.

Emilia K.: Mir gefällt das auch. Es ist einfach üblich: Der Vater arbeitet, der Sohn arbeitet, jede Generation kümmert und sorgt sich um die nächste. Es gibt eine familiäre Verantwortung.

 

Nach der langen Isolation in Russland muss es für Sie schön sein, in New York Leute zu treffen, Gesellschaft zu haben.

Ilya K.: Wir leben allein und arbeiten. Das ist ein Unterschied zur Sowjetunion. Wir könnten viele Leute treffen, aber wenn zu viele Freunde kommen, hast du keine Zeit mehr zu arbeiten.

 

Wie funktioniert Ihre Arbeitsteilung?

Ilya K.: Ideal. Wir besprechen alles.

Emilia K.: Es gibt schon noch eine andere Seite. Mein Mann ist praktisch überhaupt nicht an der Realität interessiert. Das mache alles ich allein, was Vor- und Nachteile hat. Er mag z.B. keine Computer. Ich gehe in Geschäfte und kaufe alles ein.

 

Da haben Sie Macht über ihn – und Sie bestimmen das Materielle, Kommerzielle.

Emilia K.: Das Kommerzielle ist nicht das Thema. Es gibt tausend Details zu bewältigen, die Kontakte zu Museen, Ausstellungen, Publikationen, was machen wir wie? Es ist schon in Ordnung, aber du bist ständig gezwungen, zu organisieren, Dinge zu erledigen.

 

Ihr Mann wirkt optimistischer als Sie.

Emilia K.: Er ist kein Optimist.

Ilya K.: Im Gegenteil: Ich lache zwar, aber ich bin ein skeptischer Pessimist.

 

Was bedeutet Religion für Sie?

Ilya K: Kunst hat auch einen religiösen Aspekt. Das ist genug für mich.

 

Was passiert nach dem Tod?

Emilia K.: Wir leben auf dieser Welt in einem Traum. Wenn wir erwachen, beginnt ein neues Leben. An das vorherige können wir uns, genau wie in unseren Träumen, nicht erinnern. Denken Sie an die Bibel. Diese Leute leben 1000 Jahre, und mit 700 bekommen sie Kinder. Das ist ein Hinweis für uns.

 

Wo sind Sie am liebsten?

Ilya K.: Ich erzähle Ihnen eine alte sowjetische Anekdote. In die Tretjakow-Galerie in Moskau kommt eine Gruppe von Kasachen. Sie sehen ein Bild mit einem großen See, in der Mitte eine winzige Insel mit einem Kirchlein. Die Führerin sagt: „Sehen Sie, was für ein trauriges Bild, ein Sinnbild des russischen Lebens!“ Ein Kasache meint: „Dieses Bild ist wunderbar und freundlich.“ Die Führerin fragt: „Warum?“ Er sagt: „So viel Wasser!“ Alles ist relativ.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2009)


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.