Die türkische Regierung fordert von der EU mehr Solidarität und Empathie bei der Aufarbeitung des Putschs.
Brüssel/Berlin. Die Spannungen zwischen der Türkei und der EU halten weiter an. Nachdem Staatschef Recep Tayyip Erdoğan vor wenigen Tagen damit gedroht hatte, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen und die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, hat Europaminister Ömer Celik jetzt bei einem Besuch in Brüssel diese Warnung erneuert: „Ja, vielleicht könnten die Tore wieder geöffnet werden“, sagte Celik in einem ARD-Interview. Und er fügte hinzu, dass die Türkei schließlich „kein Konzentrationslager“ sei. Er warf der EU vor, zentrale Bestandteile des Flüchtlingsabkommens nicht einzuhalten und nannte als Beispiele die Visa-Liberalisierung, die Finanzhilfen für die Versorgung syrischer Flüchtlinge sowie die Beschleunigung der EU-Beitrittsgespräche.
Weiterhin kritisch reagieren die türkischen Politiker auf die Resolution im Europaparlament von vergangener Woche, in der die Mehrheit der Abgeordneten ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen fordert. Europaminister Çelik betonte nun bei seinem Brüssel-Besuch, die türkischen Bürger lebten im Pluralismus und verteidigten die Demokratie. Das Votum des Europaparlaments gegen solch eine Gesellschaft sei daher die „ungerechteste Resolution der Geschichte“. Er forderte stattdessen Solidarität und „Empathie“ mit der Türkei angesichts des Putschversuchs gegen den Staat.
Auch Staatschef Erdoğan bekräftigte seine Kritik an der EU: Ankara habe das EU-Kapitel zwar „noch nicht geschlossen“, allerdings sollte niemand vergessen, dass die Türkei stets sehr viele Alternativen habe. Das Einfrieren der Gespräche habe die Türkei „verärgert“, und wenn der Weg in die EU blockiert sei, werde er Alternativen prüfen.
Verwirrung gab es am Mittwoch über die Haltung der deutschen Regierung zu den Beitrittsgesprächen mit der Türkei. In einem Artikel der „Bild“-Zeitung hieß es zunächst, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich in einer Sitzung der Unionsfraktion dafür ausgesprochen, wegen des Vorgehens der türkischen Regierung nach dem Putschversuch die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei zu stoppen. Doch wenig später kam das Dementi: An der Haltung der Regierung habe sich nichts geändert, so ein Sprecher Merkels. Tatsächlich habe die Kanzlerin den Abgeordneten auf Nachfrage nur gesagt, die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel mit der Türkei stehe ohnehin nicht zur Debatte. Von einem Stopp der Gespräche sei keine Rede gewesen. Faktisch habe sich die Haltung der Bundesregierung nicht geändert.
Angesichts der Debatte um ein Aussetzen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat der Chef der deutschen Grünen, Cem Özdemir, von der deutschen Bundesregierung gefordert, der Rolle der türkischen Gesellschaft mehr Beachtung zu schenken. „Man muss ein bisschen aufpassen, dass man klarmacht, das richtet sich nicht gegen die Bevölkerung in der Türkei, sondern es richtet sich gegen Erdoğan, gegen seine Politik, die das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt“, sagte er. Die Regierung unter Kanzlerin Merkel müsse Signale senden, um zu zeigen, dass „wir an der Seite der türkischen Zivilgesellschaft stehen“.
230 Jahre Haft für Kurdenpolitikerin?
Indessen forderte die türkische Staatsanwaltschaft jeweils sechs Mal lebenslange Haft für 47 Putschverdächtige wegen 17 Anklagepunkten, darunter Verschwörung zur Ermordung Erdoğans in dessen Sommerurlaubsort Marmaris. Unter ihnen sind auch 37 Militärangehörige. Außerdem fordert die Staatsanwaltschaft 230 Jahre Gefängnis für die ehemalige Bürgermeisterin der Kurdenmetropole Diyarbakır im Südosten der Türkei, Gültan Kışanak. Der Politikerin, die im vergangenen Monat festgenommen worden war, werden allein 41 Anklagepunkte wegen „Terrorpropaganda“ zur Last gelegt. (ag./red.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2016)