Ein dunkles Familiengeheimnis

TV-Journalistin und Schriftstellerin: Daria Bignardi.
TV-Journalistin und Schriftstellerin: Daria Bignardi.(c) Alan Gelati
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Die italienische Autorin Daria Bignardi hat einen klugen Familien-Krimi über starre Rollenverteilungen, erstickende Beziehungen und die große Last der Vergangenheit geschrieben.

Familienbeziehungen sind fast immer komplex, mitunter auch fragil. Inkompatible Persönlichkeiten, starre, verhasste Rollenverteilungen oder aber plötzliche Tragödien können das familiäre Gleichgewicht schnell zum Kippen bringen. So auch bei Maio und Alma. Jede freie Minute verbringen die Geschwister gemeinsam. „Aal-mma-Maiioo“, ruft sie ihre Mutter. „Aalmaio“, so der Familienwitz – eigentlich „eine einzige Person“.

Diese Symbiose überlebt sogar Maios erste wichtige Liebesbeziehung mit der quirligen Michela. Alma, die dominante, die große Schwester, hat Michela für Maio ausgesucht. So ziehen die Jugendlichen nun zu dritt durch das mittelitalienische Ferrara der turbulenten späten 1970er-Jahre: Sie lesen Bücher, diskutieren, demonstrieren, schwänzen Schule. Dann der Bruch: An einem Spätsommernachmittag schlägt Alma Maio vor, Heroin auszuprobieren. Alma belässt es bei dem einen Mal, doch Maio spritzt sich die Drogen noch einmal – und dann wieder und immer wieder. Die Familie driftet auseinander: Die Mutter sucht verzweifelt nach Therapien, der depressive Vater ignoriert lang all die Anzeichen, und Alma will nichts mehr vom Bruder wissen. Dann aber verschwindet Maio spurlos. Die einst so innige Familie zerbricht.


Eine Reise.
Jahrzehnte später beschließt Almas Tochter, Antonia, Maios Geheimnis zu lüften. Hochschwanger kommt sie nach Ferrara. Sie verliebt sich sofort in das mittelitalienische Städtchen, in seine betörende, verschlossene Schönheit. Im Zuge ihrer Entdeckungsreise rekonstruiert sie, Mosaiksteinchen nach Mosaiksteinchen, die tragische Geschichte ihrer Mutter, ihrer Familie.

Daria Bignardi, eine der erfolgreichsten TV-Journalistinnen Italiens, ist ein intensiver und kluger Familien-Krimi-Roman gelungen, der abwechselnd aus Sicht der bodenständigen Antonia und der komplizierten Alma erzählt wird. Dank dieses Perspektivenwechsels wird die Beziehung zwischen den beiden Frauen zum zentralen Thema: Die schwierige Reise in die dunkle Vergangenheit der Familie, aber auch Almas Schwangerschaft und später die Geburt ihres Babys führen zum Neuanfang des Mutter-Tochter-Verhältnisses.

Bignardi zeigt auf zarte Weise, wie traumatische Familienvergangenheiten das Schweigen überleben und auf späteren Generationen lasten. Aber sie zeigt auch, dass die Dynamik des Lebens Muster durchbrechen und die festgefahrensten Beziehungen verändern kann. Nicht die Handlung macht diesen Roman so lesenswert, sondern es sind die Erfahrungen und Gefühle der Protagonisten sowie deren Vielschichtigkeit: So steckt hinter Almas Zerbrechlichkeit eine unerwartete Lebenskraft. Bignardis Stärke liegt in ihren Beschreibungen und Stimmungen, in ihrer lebendigen, warmherzigen Sprache. Man empfindet so richtig die stickige Enge der mit Büchern angefüllten Wohnung oder sieht die Eleganz der alten Signora vor sich, die einsam in ihrer Küche einen leidenschaftlichen Schostakowitsch-Walzer hört.

Doch vor allem zeigt Bignardi dem Leser ihre Heimatstadt, führt durch versteckte Palazzi, in mysteriöse Gärten und Gassen. Es ist eines jener Bücher, das man noch lang vermisst, wenn es einmal ausgelesen ist.

Neu Erschienen

Daria Bignardi
„So glücklich wir waren“,
übersetzt von
Julika Brandestini
Insel Verlag
317 Seiten
22,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2016)

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