Türkei: Erdoğans „Rache“ an den Kurden

Der türkische Präsident, Erdoğan (2. v. l.), und der frühere Premier Ahmet Davutoğlu (l.) bei der Beerdigung eines der Polizisten, die beim Anschlag am Wochenende getötet worden sind.
Der türkische Präsident, Erdoğan (2. v. l.), und der frühere Premier Ahmet Davutoğlu (l.) bei der Beerdigung eines der Polizisten, die beim Anschlag am Wochenende getötet worden sind. (c) APA/AFP/OZAN KOSE
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Nach den Terroranschlägen trifft die Wut die prokurdische HDP, die ohnehin um ihr politisches Überleben kämpft. Die Attentate befeuern die Pläne Erdoğans zur Einführung der Präsidialrepublik.

Wien/Istanbul. Auf dem uralten Galata-Turm im historischen Stadtteil Beyoğlu in Istanbul leuchtete in der Nacht die türkische Fahne – und nicht nur dort. Diese Nation kann nicht geteilt werden, lautet einmal mehr der Tenor in der Öffentlichkeit, drei Tage nach dem Terroranschlag in Istanbul. Die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), ein Splittergruppe der PKK, verübte zwei Attentate vor einem Fußballstadion sowie in einem Park. Am Montag mussten die Behörden die Zahl der Toten erneut nach oben korrigieren: 44 Tote, darunter 36 Polizisten und acht Zivilisten.

Die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Innenminister Süleyman Soylu angekündigte „Rache“ ließ nicht lang auf sich warten. Türkische Kampfflugzeuge bombardierten am Wochenende PKK-Stellungen im Irak. In der Türkei selbst sind über 230 Politiker der prokurdischen HDP festgenommen worden, die Behörden werfen ihnen Verbindungen zur verbotenen PKK vor. Inwieweit die TAK mit der PKK verwoben ist, lässt sich kaum seriös feststellen; die PKK bestreitet jegliche Allianz. Die HDP hingegen hat sich oft von den Terroranschlägen beider Gruppen distanziert. Parteichef Selahattin Demirtaş, der derzeit in Untersuchungshaft sitzt, teilte per Brief mit, dass er das „herzlose Massaker“ in Istanbul scharf verurteile. Er spricht sich für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts aus.

Die Regierung aber unterscheidet nicht zwischen TAK, PKK und HDP – was dazu führt, dass die Partei die Terrorattentate beider Gruppen ausbaden muss. Auch nach diesem Doppelanschlag trifft die antikurdische Stimmung deren gewählte Vertreter. Unbekannte haben ein Istanbuler Büro der HDP komplett verwüstet, in sozialen Medien wird Stimmung gegen die Partei gemacht. Dabei hat die HDP lange Zeit Hoffnungen genährt, den kräftezehrenden Kurdenkonflikt endlich politisch beenden zu können: mit Demirtaş als charismatischem Vorsitzenden und mit einer Agenda, die auch junge, urbane Nichtkurden anspricht. So tritt die die HDP für die Gleichberechtigung der Frau ein, für die gleichgeschlechtliche Ehe, sie hat armenischstämmige sowie Roma-Abgeordnete und steht für einen säkularen Staat.

Von der blutigen Vergangenheit der PKK hat sich die Partei aber nie wirklich loslösen können, dafür stammen zu viele Vertreter aus dem Dunstkreis der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung. Selbst Demirtaş' Bruder war Mitglied der PKK.

Allheilmittel gegen das Chaos

Die Terrorgruppe TAK hat mit dem Anschlag nicht nur gemordet und die antikurdische Stimmung eingeheizt, sie hat auch die HDP noch mehr in die Enge getrieben – und jene Pläne Erdoğans befeuert, eine Präsidialrepublik einzuführen, die ihn mit deutlich mehr Macht ausstatten würde. Erdoğan-treue Zeitungen titelten nach dem Attentat: „Verfassungsänderung oder Chaos“. Bereits seit Monaten versucht die regierende AKP, das Präsidialsystem als Allheilmittel gegen die schwierige politische Lage zu stilisieren. Durchaus mit Erfolg. Ein Referendum ist für Frühsommer geplant.

Ins Parlament hat die konservativ-islamische Partei den Entwurf für die Verfassungsänderung nur kurz vor der blutigen Nacht in Istanbul eingebracht. Zwar werden Erdoğans Pläne von der rechtsextremen MHP unterstützt, dennoch kommen die Parteien nicht auf die nötige Zweidrittelmehrheit. Wohl auch deswegen führt die AKP einen bitteren Feldzug gegen die beiden linken Parlamentsparteien, wenngleich die HDP besonders betroffen ist. In den vergangenen Wochen ließ die Regierung etliche gewählte kurdische Bürgermeister im Osten des Landes zwangsweise absetzen. Auch gegen Zivilisten gehen die türkischen Streitkräfte seit Aufflammen des Kurdenkonflikts vor über einem Jahr teilweise brutal vor. Für Kritiker ist das ein Grund, Erdoğan eine Mitschuld an der Terrorwelle vorzuwerfen. Dabei dabei war er es, der den Friedensprozess mit den Kurden erfolgreich eingeleitet hatte.

Die HDP kämpft jedenfalls um das politische Überleben. Ihre Doppelspitze Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzt wegen „Terrorpropaganda“ in Untersuchungshaft, gegen Dutzende Abgeordnete und Parteimitglieder sind Verfahren eingeleitet worden. Eine Neuwahl würde die HDP im jetzigen Zustand kaum überleben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2016)

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