Schande über Euch!

Drastisch kritisierte die UN-Botschafterin der USA die Kriegsverbrechen des syrischen Regimes. Der Vorwurf gilt aber der ganzen Weltengemeinschaft.

Sind Sie wirklich unfähig, sich zu schämen? Gibt es keinen Akt der Barbarei, der Ihnen unter die Haut geht? Gibt es nichts, worüber Sie nicht lügen?“ Mit diesen dramatischen Worten erregte vergangene Woche US-Botschafterin Samantha Power einige Aufmerksamkeit in einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats zu den Massakern in der syrischen Stadt Aleppo. Ruanda, Srebrenica, jetzt Aleppo. Jedes Mal wird – nachher – geschworen, solche Kriegsverbrechen nicht mehr zulassen zu wollen. Und wieder geschieht es dieser Tage.

Die Anklage ist nicht nur an die syrischen Täter und deren russische und iranische Schirmherren zu richten. Eigentlich ist sie auch an Powers eigenes Land, die USA, zu adressieren und deren Präsidenten, Barack Obama. Schließlich hatte er bereits fixfertige Pläne für eine Intervention in Syrien fallengelassen, zu einer Zeit, in der von einer Präsenz Russlands in Syrien noch gar keine Rede war. Obama sah von einem Eingreifen jedoch ab, weil – unter anderem – die Europäer die USA heftig wegen ihrer Interventionen im Nahen Osten kritisierten. Einmal wollte der amerikanische Präsident nicht mehr den Weltpolizisten spielen, der dann nachher von allen Seiten geprügelt wird.

Jetzt schauen die Europäer zu, genauer gesagt – weg, als ob die Kriegsverbrechen in Aleppo Europa nichts angingen. Weder moralisch noch von seinen politischen Auswirkungen her. Was für ein schrecklicher Fehler. Welches moralische Gewicht hat ein solches Europa noch in der Welt? Wie schwer ist es zu erkennen, dass uns die Auswirkungen dieser Massaker sehr wohl ganz unmittelbar erreichen werden. Durch neue Flüchtlingsströme zum Beispiel.

In den Tagen vor Weihnachten – und dieses Jahr fällt nach fast 60 Jahren auch das jüdische Chanukkah-Fest wieder einmal genau auf den 24. Dezember – möchte man sich so manches wünschen. Klarerweise, dass solche Verbrechen gegen die Menschheit nicht mehr stattfinden mögen. Auf Europa bezogen jedoch auch, dass unser Kontinent endlich wach werde und sein großes Potenzial – politisch, wirtschaftlich und notfalls auch militärisch – zur Geltung bringen möge. In das weltpolitische Geschehen und gegen Barbarei einzugreifen, jenseits allfälliger nationaler, kultureller und geschichtlicher Unterschiede, welche die europäischen Nationen trennen mögen.

Kleine Lichtblicke gäbe es ja: In Frankreich konnte sich überraschenderweise der konservativ-liberale François Fillon bei den Vorwahlen durchsetzen und hat jetzt gute Chancen, der nächste Präsident Frankreichs zu werden. Ihm ist zuzutrauen, dass er Frankreich aus der wirtschaftlichen und politischen Abseitsposition wieder zurückholt. Gemeinsam mit einer wiedergewählten Angela Merkel könnte so ein starkes Team für Europa entstehen.

Wenn dann auch Großbritannien einen Weg findet, in welcher Form auch immer, ein wichtiger und integraler Teil Europas zu bleiben, dann sähe die Zukunft des Kontinents noch besser aus.

Europäische Politik muss sich fürs Erste einmal auch unabhängiger von der derzeit noch erratischen und nicht absehbaren US-Außenpolitik der neuen Administration unter Donald Trump machen. Es wäre aber ein großer Fehler, sich jetzt als zwischen den USA und Russland in der Mitte stehend zu sehen. Europa steht nicht auf halbem Weg zwischen Demokratie und Diktatur, Marktwirtschaft und gelenkter Staatswirtschaft, Rechtsstaat und Willkürstaat. Europa ist Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Dabei sind und bleiben die USA unser wichtigster Verbündeter und Partner, mit dem uns mehr verbindet als mit irgendeinem anderen Staat oder politischen System. Ganz egal, wer jetzt gerade der US-Präsident ist.

Und Österreich hat sich heute nicht mehr als Brücke zwischen Westen und Ostblock zu begreifen, wie es oft in der Zeit des Kalten Krieges war. Wir befinden uns mitten im westlichen Lager und sollten stolz, froh und dankbar dafür sein.

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Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2016)

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