Kampf am Nigerdelta: Wie das Erdöl zur Belastung wird

Trotz des Öls prägt Armut das Leben der Menschen im Nigerdelta.
Trotz des Öls prägt Armut das Leben der Menschen im Nigerdelta.(c) Christian Putsch
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An kaum einem anderen Ort ist die Verschmutzung der Gewässer so zum Politikum geworden wie in Nigeria. Trotz Verbots brennen Ölmultis Abgase ab. Aktivisten führen Anschläge auf Ölleitungen durch.

Vor ein paar Tagen kam ein junger Dorfbewohner in die Hütte von Chief Vincent Looley. Er habe genug, schimpfte er. Genug von den Tilapia-Fischen, an deren Innereien das Öl klebt. Genug vom Gestank des Öls, das er weder vollständig aus seinen Netzen noch von seiner Haut waschen kann. Genug vom Kotzen seiner Kinder, die er mit dem füttern muss, was die Sümpfe des Nigerdeltas hergeben. „Genug, Chief“, sagte er, „wir müssen uns endlich Gehör verschaffen.“ Und nigerianische Politiker, so glauben viele Bewohner in Looleys Dorf B-Dere, horchen nur bei Waffen auf.

Seit den 1950er-Jahren wird im Nigerdelta Öl gefördert, die Vereinten Nationen bezeichnen die Region im Süden des Landes als „einen der meistverschmutzten Orte der Welt“. Weit über 10.000 Ölunfälle gab es bislang, jährlich fließen durchschnittlich 240.000 Barrel Öl in die Gewässer. Viele Zwischenfälle werden durch veraltete oder verwahrloste Infrastruktur von Konzernen wie Shell und Chevron verursacht. Und durch Anschläge. Ölpiraten sprengen die Leitungen bisweilen in die Luft, um illegal an den teuren Rohstoff zu kommen. Oder um die Regierung zu erpressen.

In diesem Jahr erlebte die Region, deren Öl für zwei Drittel der nigerianischen Staatseinnahmen verantwortlich ist, die schlimmsten Sabotageakte seit knapp einem Jahrzehnt. Eine Gruppe mit dem kinofilmtauglichen Namen Niger Delta Avengers (Die Rächer des Nigerdeltas, kurz: NDA) schickt bestens ausgebildete Taucher zu den Leitungen im Wasser und sprengt die Rohre in die Luft. Die Ölexporte Nigerias sind so von 2,2 Millionen Barrel am Tag zeitweise um mehr als die Hälfte gesunken. Seitdem hat Angola Nigeria als größten Erdölexporteur Afrikas abgelöst.

Offiziell will die NDA das Gleiche wie Chief Looley und die Bewohner seines Dorfes, B-Dere: einen größeren Anteil an den Öleinnahmen für den verarmten Süden, der den Preis für die enorme Verschmutzung des Wassers zahlt. Auch die Mangroven in den Flüssen, an dessen Ufern B-Dere liegt, sind ölverschmiert, das Wasser schimmert wie Benzin. Doch Dorfvorsteher Looley setzt auf unbewaffneten Widerstand. In seiner Gegend, dem Ogoniland, entstanden schließlich schon vor Jahrzehnten die ersten friedlichen Bürgerrechtsorganisationen gegen die Ölkonzerne. „Nein“, sagt er zu dem wütenden Dorfbewohner, „vergiss die Waffen. Wir finden einen anderen Weg.“ Welchen? Das weiß er selbst nicht.

An wohl keinem anderen Ort weltweit ist die Verschmutzung der Gewässer so sehr zum Politikum geworden. Die Bürger des Nigerdeltas führen 90 Prozent der Verschmutzungen auf die Konzerne zurück und nur zehn Prozent auf Sabotageakte – Konzerne wie Shell stellen die Proportion umgekehrt dar. Über ihre Verantwortung entscheiden zunehmend ausländische Gerichte. Anfang Dezember begann in London ein Prozess gegen Shell, bei dem 40.000 Bewohner der betroffenen Gebiete Ogale und Bille „wegen Jahrzehnten der Ölverschmutzungen“ Entschädigung und Reinigungsarbeiten von Shell fordern.

Gehorsam gegenüber Politik. Shell hat eine Verhandlung des Falls in Nigeria gefordert. Dort werden in der Regel nur niedrige Entschädigungszahlungen angeordnet, in Gehorsam gegenüber der Politik, die von den Einnahmen in der Region abhängig ist und Investoren nicht verprellen will. Am Ende ließ das Gericht in London, dem Sitz von Shell, die Klage zu. Shell produziert seit 1993 nicht mehr im Nigerdelta, ist aber weiterhin für die Sicherung der damals genutzten Anlagen mitverantwortlich. Anfang 2015 zahlte das Unternehmen 78 Millionen Euro Entschädigung an Anwohner anderer betroffener Gemeinden.

So fackeln beispielsweise viele Unternehmen ihre bei der Ölförderung entstandenen Abgase weiter ab, eine Technik, die erheblich zur globalen Erwärmung beiträgt. Sie ist verboten, doch die Strafgebühren für diesen Mitverursacher der globalen Erwärmung sind bewusst so gering gehalten, dass sie weit billiger sind als eine umweltfreundliche Nutzung wie Stromerzeugung oder Herstellung von Flüssiggas. Politik und Ölmultis kleben in Nigeria regelrecht aneinander. WikiLeaks enthüllte im Jahr 2010, dass Shell in allen wichtigen Ministerien des Landes Informanten angeworben hat.

Für Alagwa Morris von der Umweltschutzorganisation Resource Centre at Environmental Rights Action ist die Sache klar: Die Ölfirmen sind schuld. Seit 20 Jahren analysiert er Wasserproben im Nigerdelta und inspiziert veraltete Infrastruktur. „Es vergeht keine Woche, ohne dass massenhaft Öl austritt“, sagt er. Aus einigen Teilen des Nigerdeltas hat sich Shell schon in den Neunzigerjahren zurückgezogen. Doch der Konzern komme seiner gesetzlichen Pflicht nicht nach, die veraltete Infrastruktur zu sichern. Entsprechend werde das Wasser weiter verschmutzt.


Langjährige Säuberung. Die Situation wird schlimmer, obwohl die Regierung eine Milliarde Dollar zur Reinigung des Nigerdeltas versprochen hat. Firmen aus aller Welt bewerben sich um den Auftrag, besonders in Kanada haben sie Erfahrung mit der Beseitigung von Ölverschmutzungen. Doch die Finanzierung bleibt ungesichert, das Projekt sollte eigentlich im Juni beginnen und liegt weiter auf Eis.

Eine Säuberung wird zudem mindestens 25 Jahre dauern, glauben Experten. Längst sei der Jugend die Geduld ausgegangen, sagt Morris. „Sie wollen jetzt Ergebnisse sehen.“ Die 13 Prozent aus den Öleinnahmen, die an die ölfördernden Provinzen fließen, seien nicht genug. Auch abseits der Ölfelder habe die Armut für mehr Kriminalität gesorgt, erzählt Morris. Neben den Anschlägen auf Ölleitungen steigt die Zahl der Entführungen. Oft sind unschuldige Anwohner die Opfer. Piraten lauern zudem Fischerbooten auf und stehlen die Motoren.

Im Gegensatz zu Chief Vincent Looley gibt es im Nigerdelta viele, die Waffengewalt auch im politischen Kampf für das einzig richtige Instrument halten, um den Ungehörten eine Stimme zu geben. Als in den Jahren 2004 bis 2009 eine Rebellengruppe namens Movement for the Emancipation of the Niger Delta (MEND) schon einmal die Förderung auf ein ähnlich niedriges Niveau wie derzeit bombte, kaufte sich die Regierung mit einem Amnestieprogramm frei. Rund 30.000 Kämpfer gaben ihre Waffen ab, erhielten im Gegenzug eine monatliche Zahlung in Höhe von 360 Euro und Ausbildungen zu Schreinern oder Schweißern auf Staatskosten – oft sogar im Ausland.

Doch Nigeria geht das Geld aus. Der niedrige Ölpreis drückt die Staatseinnahmen, und der Kampf gegen die islamische Terrormiliz Boko Haram im Norden des Landes verschlingt Milliarden. Zudem reichen die öffentlichen Investitionen längst nicht aus, um die Lebensqualität der rasant wachsenden Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Anfang des Jahres reduzierte die Regierung das Budget für die ehemaligen Aufständischen um 70 Prozent. Seit März haben die Exkämpfer keine Amnestiezahlungen mehr bekommen. Zur gleichen Zeit formierte sich die NDA – die Vermutung über einen Zusammenhang liegt nahe.

Der wichtigste Verhandlungsführer der MEND-Kämpfer lebt in einem Hotelzimmer in der Stadt Yenagoa. Reuben Clifford Wilson sagt, es sei ruhiger hier als in seinem Haus. Doch dann erzählt er von den zehn Sicherheitsmännern, die er draußen platziert hat. Die Sicherheit in dem Hotel, das der Frau von Nigerias Ex-Präsident Goodluck Jonathan gehört, ist einfach größer. Wilson, Vater von 26 Kindern, hat Angst vor Entführungen. Vor Gegnern, die seine Verhandlungsposition nicht teilen. Der Regierung. Anderen Rebellengruppen. Politikern, gegen die er in einem Prozess als Zeuge aussagt. Die Angst ist so allgegenwärtig im Nigerdelta wie der Gestank des Öls, der sogar in sein klimatisiertes Hotelzimmer vordringt.

Wilson glaubt nicht, dass es sich bei der NDA um neue Akteure handelt. Die Sabotageakte waren hoch professionell, und Wilson erkennt einen „guten Job“ in der Branche. „90 Prozent dieser Rebellen sind ehemalige MEND-Rebellen, die ihre Zahlungen nicht bekommen haben“, sagt der 45-Jährige, den alle wegen seiner Gottesfürchtigkeit nur General Pastor nennen. „Sie verstehen das Leben in den Städten nicht, deshalb gehen sie in die Sümpfe. Sie sehen keinen anderen Weg, um zu überleben.“ Schuld seien die Ölfirmen, schließlich würden sie die Einstellung der ehemaligen Rebellen verweigern. „Mein Bruder wurde von der Regierung nach England geschickt und zum Piloten ausgebildet. Jetzt ist er zurück und arbeitslos.“

Und auch ihm gegenüber seien Versprechen gebrochen worden. „Wie kann es sein, dass die Anführer das gleiche Geld bekommen wie die einfachen Kämpfer?“ Bei den Amnestieverhandlungen im Jahr 2009 sei ihm ein neues Haus versprochen worden, dazu langfristige Verträge zum Schutz der Ölplattformen. Dafür gründete er eine Firma, doch vor einigen Monaten kündigte die Regierung den lukrativen Vertrag. „Und das Haus habe ich auch nicht bekommen“, sagt der General Pastor.

Wie Erpressung. Doch Präsident Muhammadu Buhari ist auf Wilson angewiesen, schließlich gilt dieser als gemäßigter Vertreter der Exrebellen. Eines seiner vier Smartphones ist für Anrufe von der Regierung reserviert, bei Reisen stellen sie ihm einen Militärkonvoi zur Verfügung. „Die NDA muss ihre Waffen niederlegen“, sagt der ehemalige Rebellenführer linientreu. „Wenn die Armee im großen Stil ins Nigerdelta kommt, werden Väter und Mütter und Kinder leiden.“ Zudem hätten die Anschläge die Staatseinnahmen so sehr dezimiert, dass derzeit nicht einmal mehr die Staatsangestellten in seiner Provinz bezahlt werden könnten. Die Regierung müsse die Amnestiezahlungen fortsetzen, fordert er. Dann würden auch die Sabotageakte aufhören. Es klingt wie Erpressung.

So bewegt sich Nigeria seit Jahren in einem kostspieligen Teufelskreis, in dem für alles bezahlt wird – nur nicht für die Beseitigung der Ursache: das Öl. In B-Dere versucht Chief Looley, die Hoffnung nicht zu verlieren. 55 Jahre alt ist er, einen Alltag ohne Öldreck hat er nie erlebt. Aber immerhin ein Leben mit weniger Verschmutzung. Seit einigen Monaten experimentiert eine lokale Firma mit Bakterien und anderen Mikroorganismen an einer Teststelle am Ufer. Die Belastung ist um 50 Prozent gesunken, sagt der zuständige Ingenieur.

Looley steht neben ihm. Er ist skeptisch. Der Gestank ist noch immer der gleiche, und das Wasser hat in dieser Woche fünf seiner Bewohner krank gemacht. Er hat nach all den Lügen verlernt zu vertrauen.

Nigeria


Seit über fünf Jahrzehnten gewinnt Nigeria Erdöl aus dem Nigerdelta. Während dieser Zeit ist die Umwelt massiv verschmutzt und beeinträchtigt worden. Von den Verschmutzungen sind den Vereinten Nationen zufolge rund eine Million Menschen betroffen und bedroht. Bewaffnete Aktivisten gehen gegen die Erdölförderung vor und führen Anschläge durch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2017)

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