Gibt es gar einen geheimen Lehrplan gegen die Buben?

Anmerkungen zum geplanten Frauenvolksbegehren: Alle reden von der gläsernen Decke für Frauen, aber niemand von der gläsernen Falltür für die jungen Männer.

Kürzlich war der „Presse“ zu entnehmen, dass Frauennetzwerke ein neues Volksbegehren vorbereiten. Gut so. Mehr als 30 Jahre nach Johanna Dohnal ist die Benachteiligung von Frauen immer noch mit den Händen greifbar. Ich werde daher die Initiative unterzeichnen. Der Forderungskatalog ist vernünftig. Er reicht von der Kinderbetreuung bis zum gleichen Lohn.

Lediglich Kleinigkeiten findet man, die man nicht auf Anhieb versteht. Eine betrifft die Schule. Sie vernachlässige die Gleichstellung von jungen Frauen und Männern, etwa im Mathematikunterricht und den Naturwissenschaften: In diesen Fächern seien die Burschen den Mädchen um bis zu einem Lernjahr voraus. Das müsse sich ändern.

Diese Forderung legt einige Anmerkungen nahe. Etwa, dass im Unterrichtsressort seit mehr als 20 Jahren Frauen an der Spitze stehen. Oder, dass das Schulwesen ein Berufsfeld ist, das wie kaum ein anderes von tüchtigen Frauen dominiert wird. 70Prozent sind es im Schnitt, 90Prozent in den Volksschulen. Blickt man auf die Studierendenzahlen an den pädagogischen Hochschulen, werden diese Prozentsätze noch steigen. Pädagogik ist ein Frauenstudium.

Betrachten wir die Geschlechtergerechtigkeit im Schulwesen genauer. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Mädchen einen Bonus haben. Buben bleibt an den Nahtstellen des Bildungswesens der Übertritt in höhere Schulen häufiger verwehrt. Mädchen stellen 48Prozent der Volksschülerinnen, aber 54 Prozent in der AHS-Unterstufe. Bei der AHS-Matura beträgt der Frauenanteil 58 Prozent.

Insgesamt tritt etwa ein Viertel der Mädchen zur Reifeprüfung an, aber nur ein Sechstel der Buben. Diese müssen dafür deutlich häufiger Klassen wiederholen. Sie werden auch doppelt so oft als „verhaltensauffällig“ eingestuft.

In der Notengebung ist der Mädchenbonus besonders ausgeprägt. Seit Jahrzehnten ist dokumentiert, dass Mädchen bei gleichen Leistungen bessere Noten erhalten. Der Unterschied beträgt teilweise eine volle Notenstufe. Kaum jemand sieht darin eine strukturelle Benachteiligung der Burschen. Mädchen haben auch dort bessere Noten, wo sie nach den Pisa-Tests schlechter abschneiden. Etwa in Mathematik: schlechtere Leistungen, aber Notenvorteile.

Erziehungswissenschaftler sehen darin eine „versteckte Rache“: Das sozial weniger angepasste Verhalten der Buben fließe in die Notenbeurteilung ein. Wirkt sich ein heimlicher Lehrplan zu Ungunsten der Burschen aus? Viele Fakten sprechen dafür. Bei den Eignungstests für das Medizinstudium musste eine Wissenschaftlerin feststellen, dass österreichische Maturantinnen bei gleichen Schulnoten in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern deutlich schlechtere Testergebnisse hatten als ihre männlichen Mitbewerber.

Die schulkonformere Haltung beschert den Mädchen aber bis zur Matura bessere Noten – alles in einem Erziehungskontext, in dem vorrangig Frauen arbeiten. Expertinnen meinen, dass es das beste Rezept wäre, dem annähernd ausgewogenen Verhältnis von Schülerinnen und Schülern mit einem ausgewogenen Verhältnis von Lehrerinnen und Lehrern zu begegnen. In Norwegen macht man das.

Das geplante Frauenvolksbegehren halte ich für gut. Mit einer Fußnote, was das Schulwesen betrifft. Vor einiger Zeit bin ich nämlich auf Hannah Arendts Doktorarbeit gestoßen. Sie hat mit 22 Jahren dissertiert, im selben Jahr wie ihr Freund und Kommilitone Hans Jonas. Beide schrieben über den heiligen Augustinus: Sie über seinen Liebes-, er über dessen Freiheitsbegriff.

Sicher sind sie auf den Satz des Kirchenlehrers gestoßen „Nullus quippe credit aliquid, nisi prius cogitaverit esse credendum“. Niemand glaubt etwas, ohne vorher nachzudenken, ob man es auch glauben muss. Ich werde das Frauenvolksbegehren unterschreiben. Ob ich wirklich alle Forderungen glauben muss, werde ich noch überlegen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2017)

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