Deutschland: FDP warnt vor „drohendem Wählerbetrug“

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Die Liberalen sind in den Koalitionsgesprächen an den Rand gedrängt. Der mangelnde Mut der Union zu einem Politikwechsel erzürnt auch Guido Westerwelle.

Berlin. „Merkel bleibt sich treu.“ So betitelte die „Berliner Zeitung“ am Donnerstag einen Cartoon: „Nichts Konkretes bei den wichtigen Themen, es sieht überall nach nichtssagenden Minimalkompromissen aus...“, verkündet ein Koalitionsverhandler dem Parteicheftrio von CDU, CSU und FDP per Sprechblase aus den einzelnen Arbeitskreisen, worauf Bundeskanzlerin Angela Merkel antwortet: „Dann läuft ja alles bestens!“

Die Koalitionsverhandlungen zwischen den künftigen Regierungspartnern laufen derzeit in Berlin auf Hochtouren, wobei vor allem die Union aufs Tempo drückt. Das Ziel, bereits am kommenden Wochenende zu einem Abschluss zu gelangen, wird aber nun doch nicht erreicht werden, da es bei den größten Brocken Finanzen, Arbeit und Gesundheit noch kaum Annäherung gibt. Wegen der Fülle offener Fragen sind nächste Woche drei weitere Verhandlungstage angesetzt worden, am 23.Oktober will man fertig sein.

Neuanfang mit neuem Denken?

Bei den Liberalen wächst der Unmut darüber, dass die Union offenbar auf ein „Weiter so“ setze. „Mancher erweckt den Eindruck, als wolle er die Politik der bisherigen schwarz-roten Koalition fortsetzen“, sagte FDP-Fraktionsvize Carl-Ludwig Thiele in einem Interview. Der mangelnde Mut der Union zu einem Politikwechsel erzürnt viele Liberale, die Warnung vor einem „drohenden Wählerbetrug“ wird laut.

FDP-Chef Guido Westerwelle, der sich als kleiner Partner sichtlich an den Rand gedrängt fühlt, unterstrich zuletzt in einem E-Mail an Wähler und Sympathisanten, „dass es bei unserem Programm für faire Steuern und Entlastungen für Familien bleibt. Wir brauchen Vorrang für Bildung und Forschung. Und wir wollen insgesamt mehr Respekt für die Bürgerrechte“. Die Liberalen setzten auf „einen Neuanfang mit neuem Denken“, die Bevölkerung solle sich während der laufenden Koalitionsgespräche nicht von „angeblichen Wasserstandsmeldungen“ beeindrucken lassen.

Der Durchsetzungsspielraum für die FDP erscheint allerdings gering. Während sie „schmerzhafte Einschnitte“ zur Sanierung des Haushalts fordert und eine große Struktursteuerreform zu ihrem Hauptziel gemacht hat, will die Union auf keinen Fall einen sozialen Kahlschlag durchführen und schließt bei den Steuern Entlastungen von mehr als 15 Milliarden aus. Die Liberalen haben 35 Milliarden angepeilt, scheinen aber bereit, zurückzustecken. Westerwelle hat seinen ersten Dämpfer bekommen.

Konflikt um Bürgerrechte

Auch beim Thema Bürgerrechte und Datenschutz, für die FDP ebenfalls von zentraler Bedeutung, stößt sie an ihre Grenzen. Strittige Fragen sind etwa die Onlinedurchsuchung und Vorratsdatenspeicherung. Die Liberalen wollen die Bürgerrechte stärken, die Bereitschaft bei der Union, an den bestehenden – zuletzt verschärften – Gesetzen zu rütteln, ist jedoch gering.

Sozialer Schachzug

Als ersten Durchbruch feierten die beiden Partner den Beschluss, die Bedingungen für Hartz-IV-Empfänger zu verbessern. Das Schonvermögen, das Empfänger des Arbeitslosengeldes II für ihre Altersvorsorge geltend machen können, ohne dass es auf die staatliche Hilfeleistung angerechnet wird, soll von 250 auf 750 Euro pro Lebensjahr erhöht werden. Ein geschickter Schachzug, der die Angst vor drohender sozialer Kälte lindert. Laut Gewerkschaftsbund reicht diese Maßnahme allerdings nicht aus.

Viel weiter ist man jedoch bei der Arbeitsmarktpolitik noch nicht gekommen. Die Union mauert beim Thema Kündigungsschutz und Mitbestimmung, eine Einigung bei der Neuordnung der Jobcenter ist nicht in Sicht. Einen allgemeinen Mindestlohn soll es nicht geben, wohl aber „ein gesetzliches Verbot von sittenwidrigen Löhnen“. Große Differenzen gibt es noch in der Gesundheitspolitik, etwa über die Zukunft des Gesundheitsfonds.

Zur Regulierung der Finanzmärkte haben sich Union und FDP darauf geeinigt, dass die Banken nach der Finanzkrise höhere Eigenkapitalpuffer aufbauen müssen. Die Bankenaufsicht wird bei der Deutschen Bundesbank konzentriert. Konjunkturprognose, Seite 17

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2009)

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