Der Oxford-Politologe Jan Zielonka warnt, dass Europa durch eine „obsolete Nato“ verwundbar würde und es keine roten Linien für Angreifer mehr gebe.
Die Presse: Was wird sich durch Donald Trump für Europa ändern?
Jan Zielonka: Trump ist dabei, die Beziehungen zwischen den USA und Europa völlig umzukrempeln. Das betrifft sowohl den Handel als auch die Sicherheit. Die Auswirkungen könnten verheerend werden. Dazu kommt, dass mit dem Brexit dem gemeinsamen Europa eine der wichtigsten militärischen Kräfte verloren geht.
Angela Merkel hat zuletzt den Aufbau einer eigenen europäischen Sicherheitsarchitektur gefordert. Ist das, nachdem Trump die Nato als obsolet bezeichnet hat, tatsächlich notwendig geworden?
Theoretisch wäre das sinnvoll, denn es gibt keine Garantie, dass Amerika weiterhin in gleicher Weise Verantwortung für die Sicherheit in Europa übernimmt. Aber in der Realität wird das schwierig. Wir können in der EU keine Sicherheitspolitik aufbauen, ohne zuvor die gemeinsame Außenpolitik entwickelt zu haben. Sie gibt es nicht, sie aggregiert sich derzeit lediglich aus unterschiedlichen nationalen Interessen. Die Länder an der Grenze zu Russland haben ganz andere Interessen als jene am Mittelmeer. Und da reden wir noch nicht einmal von den notwendigen Kapazitäten für eine EU-Sicherheitspolitik. In naher Zukunft könnten wir noch einen hohen Preis dafür zahlen, dass wir nicht vorbereitet sind.
Sie haben die Situation in Osteuropa angesprochen. Gibt es für diese Länder nun ein größeres Sicherheitsrisiko?
Es geht darum, hier rote Linien zu definieren, wenn zum Beispiel Russland auf die Idee käme, sich ein weiteres Stück Territorium zu nehmen, weil es dieses für sein eigenes hält. Das Problem mit dem Statement von Trump, wonach die Nato obsolet sei, ist nicht der Inhalt. Wir müssen uns damit befassen. Das Problem ist, dass der künftige US-Präsident das ausspricht, bevor eine Alternative entwickelt wurde. Wie sollen wir denn künftig solche Probleme lösen? Wenn jemand einmarschiert, wie sollen wir reagieren, wenn wir nicht definiert haben, was das für eine Reaktion bedeuten würde? Ich glaube nicht, dass Moskau einen solchen Masterplan hat, aber es könnte sein, dass es irgendwann austestet, was geht. Es geht da aber nicht nur um Russland, es geht nicht einmal nur um Staaten.
Sie meinen, auch Terroristen könnten plötzlich austesten, was in Europa geht?
Exakt. Es ist vorstellbar, dass einzelne Menschen Cyberangriffe starten, dass Unternehmen solche Angriffe starten. Wenn wir über Alternativen zur Nato sprechen, müssen wir all diese neuen Formen der Bedrohung einplanen. All diese Probleme kann kein Land für sich allein lösen. In dieser Atmosphäre totaler Konfusion, keiner Regeln und keiner verlässlichen Kooperationen, kann einiges geschehen.
Sollte Trump, wie angekündigt, die Beziehungen zu Putin verbessern: Was wäre die Konsequenz für Europa?
Gute Beziehungen zu Putin sind per se keine schlechte Sache. Es kommt aber auf die Substanz an. Gelingt es, die Vertreter Moskaus an denselben Tisch wie westliche Länder zu bringen, dann ist da nichts verkehrt daran. Aber soweit geht ja derzeit Trumps Vorstoß nicht. Dahinter steht keine seriöse Strategie.
Damit Europa gemeinsam antworten kann, braucht es aber auch eine stabile wirtschaftliche Grundlage. Sehen Sie diese momentan?
Natürlich hängen das wirtschaftliche System, Handelsfragen und Sicherheit zusammen. Das Problem ist, dass es heute kein Konzept für die neue Situation gibt – weder in der Außen- und Sicherheitspolitik noch für den Markt.
Wird es für die EU nach dem Austritt Großbritanniens leichter werden, gemeinsame Konzepte zu entwickeln?
Das denke ich nicht. Heute wird eine weitere Integration Europas nicht von Großbritannien allein blockiert, sondern von vielen Mitgliedstaaten. Der Brexit wird für niemanden einen Vorteil bringen. Dieser Scheidungsprozess wird viele Verlierer produzieren. Dieser Austritt ist ein Teil eines konterrevolutionären, antiliberalen Aufstands. Es geht um einen Anschlag auf alle Säulen der liberalen Ordnung. Eine davon ist das europäische Integrationsprojekt. Andere sind der Freihandel, aber auch die demokratisch legitimierten Regierungen. Für all das geht die Unterstützung in der Bevölkerung verloren.
Sind diese antiliberalen Strömungen ein dauerhaftes Phänomen?
Das ist schwer vorauszusagen. Aber ich bin sicher, dass die alte Ordnung nicht zurückkehrt. Die Regierungen haben große, sehr große Fehler begangen. Viele jener, die heute davon profitieren, werden möglicherweise scheitern, weil ihnen die Kompetenz fehlt. Es muss eine neue Generation von Verantwortlichen her, die einen neuen Zugang zur Demokratie, zum Kapitalismus und zur europäischen Integration findet. Das braucht aber Zeit. Einstweilen werden wir eine sehr turbulente Periode erleben.
ZUR PERSON
Jan Zielonka ist Professor für Europäische Politik an der Universität Oxford. Er hat sich in mehreren Studienprojekten mit der EU-Erweiterung, den EU-Institutionen und der EU-Außenpolitik befasst. Zuletzt verfasste er den kritischen Essay „Is the EU Doomed?“. Zielonka, der 1955 in Polen geboren wurde, arbeitet in Großbritannien und lebt teilweise Italien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2017)