Zur Wahlrechtsreform braucht es einen Plan B

Die Intention des Bundeskanzlers, zu einer durchsetzungsstarken Regierung zu kommen, verdient einen ernsthaften Nachdenkprozess. Klar ist: Die Regierenden wollen mehr Macht. Aber wollen das auch die Regierten?

Gut, dass es jetzt Leute wie Christian Kern, aber auch Sebastian Kurz in der Innenpolitik gibt. Man muss ihre Ansichten nicht teilen, aber zumindest diskutieren kann man mit ihnen. Wer wollte das nicht positiv sehen? In diesem Sinne einige kritische, aber nicht destruktiv gemeinte Anmerkungen zu Kerns Wahlrechtsreformideen.

Die Ausgangslage ist klar. Die Regierenden wünschen sich mehr Regierungsmacht, umschrieben als „leadership“ und „Entscheidungen von den stärksten Kräften“. Die Frage ist: Wollen das auch die Regierten?

Das Verfassungsverständnis der Zweiten Republik basiert eher darauf, einen „schwachen Staat“ zu haben und „dem Volk“ nicht uneingeschränkt zu trauen. Die Machtmaschine Staat ist in Teilgewalten zerlegt. Die Gesetzgebung ist in zehn Bereiche geteilt, den Bund und neun Länder. Ebenso die Verwaltung. An jedem Punkt der Republik gibt es zwei Staatsgewalten, jene des Bundes und eines Landes. Selbst die Gerichtsbarkeit ist nicht nur Bundessache.

Umzingelter Parteienstaat

Alle diese Schichten unterstützen einander zwar vereinzelt, in der Hauptsache aber kontrollieren, konkurrenzieren und behindern sie sich gegenseitig. Der gewollte und seit Thomas Hobbes, Charles Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau und der Französischen Revolution weiterentwickelte Gedanke dabei: Wenn die Regierten schon die Allmacht des Staates ertragen müssen, dann bitte wenigstens nicht als Konzentrat.

Kerns Plan A basiert auf der zutreffenden Idee, dass seine ambitionierten Reformideen einen manövrierfähigen Staat voraussetzen. Solange er in der genannten Blockadesituation und von Sozialpartnern, dem Kammer- und föderalen Parteienstaat umzingelt ist, wird sich kaum etwas bewegen lassen. Er lässt aber kaum erkennen, was er sich konkret an Wahlrechtsänderungen vorstellt.

Auf Seite 137 seiner Schrift findet sich nur: „Die stimmenstärkste Partei erhält den Auftrag zur Regierungsbildung; der Wahlsieger stellt den Bundeskanzler; die Zahl der Ministerien wird reduziert. Die Zuständigkeiten werden nicht für jede Regierung neu zusammengestellt. Ihre Mitglieder nehmen auch ihre Aufgabe im Nationalrat wahr und sind stimmberechtigt; nach der Wahl muss die neue Bundesregierung innerhalb eines Monats die Arbeit aufnehmen.“

Die Vorteile laut Kern: „Die Regierungsbildung erfolgt sofort nach der Nationalratswahl, rasche Handlungsfähigkeit ist sichergestellt; Regierungen ohne lange Koalitionsverträge sind möglich, für Gesetzesvorhaben werden flexibel Mehrheiten gesucht; Stärkung des Parlamentarismus, da alle Fraktionen stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten an der Gesetzgebung haben.“

Kontrollrecht des Parlaments

Will man daraus einen Sinn konstruieren, was nicht einfach ist, soll damit offenbar der Bundespräsident durch Verfassungsänderung verpflichtet werden, nur die jeweils stimmenstärkste Partei mit der Regierungsbildung zu betrauen. Hat man das sich auffächernde Parteienspektrum als „Megatrend“ vor Augen – die Verfassung sieht mit ihrer Vier-Prozent-Hürde sogar bis zu 25 Parteien im Parlament als möglich an –, kann dies nur auf die gesetzlich gebotene Installierung von Minderheitsregierungen hinauslaufen.

Dann erhebt sich aber sofort die Frage: Und was ist mit dem Ur-recht jedes Parlaments, durch Misstrauensvotum eine Regierung abzuberufen und damit Neuwahlen vom Zaun zu brechen?

Man kann nicht ernsthaft vermuten, dass dieses Kontrollrecht des Parlaments und die damit verbundene demokratisch legitimierte Rückkoppelung der Regierung zum Wahlvolk abgeschafft werden soll. Selbst eine problematische, aber denkbare Erhöhung der Entscheidungserfordernisse über ein Misstrauensvotum von der derzeit einfachen zu einer Zweidrittelmehrheit würde bei Wahlergebnissen um die 25 bis 30 Prozent pro Partei wenig ändern.

Nicht ersichtlich ist auch, wie durchzusetzen ist, dass die „Bundesregierung innerhalb eines Monats“ nach erfolgten Wahlen „die Arbeit aufnehmen muss“. Soll dies bei Zuwiderhandeln vielleicht mit Geld- oder Freiheitsstrafe sanktioniert werden?

Uneingeschränkte Zustimmung muss hingegen der Gedanke erhalten, die Zahl der Ministerien und deren Zuständigkeiten nicht nach jeder Wahl neu auszugestalten und mit je wechselndem Inhalt zu befüllen. Da darf man sich Konstanz anhand auf der Hand liegender und nicht alle paar Jahre wechselnder Staatsaufgaben wünschen.

Stimmberechtigte Minister

Die weitere erschließbare Plan-A-Idee, die Zahl der Stimmberechtigten im Nationalrat durch die Ministeranzahl der jeweiligen (Minderheits-)Regierung zu erhöhen, etwa um elf Minister, liefe letztlich auf dreierlei hinaus: Einerseits gäbe es keine Minister mehr, die nicht auch auf Parteilisten zum Nationalrat kandidieren würden; sonst gäbe es plötzlich Stimmberechtigte, die niemand gewählt hat. Das bedeutet aber den institutionalisierten Verzicht auf „parteineutrale“ Expertenminister. Zwar ohnehin eine Seltenheit – aber ob das vernünftig ist?

Andererseits läuft dies auf einen „Mandatszuschlag“ von fast sechs Prozent der Parlamentssitze für die stimmenstärkste Partei hinaus. Zumindest, wenn man dies so versteht, dass diese Minister zusätzlich zu den 183 Abgeordneten stimmberechtigt sind. Dies wäre aber ein Grund mehr für die anderen Parteien, per Misstrauensvotum diese minderheitsregierungsbedingte Mandatsübermacht bei erster Gelegenheit zu kappen. Effekt: Erst wieder „Stillstand“ – diesmal aber nicht durch „Blockade“, sondern durch Dauerwahlkampf.

Die alte und die neue Schule

Drittens: Dies gäbe keinen schlanken Gewaltenteilungsfuß, da sich die vom Parlament kontrollierten Minister mit ihrem Stimmrecht selbst kontrollieren würden. Zuzugestehen ist aber, dass auch schon heute Minister nicht zwingend ihr Nationalratsmandat verlieren und überhaupt die Regierung ohnehin eine Art Ausschuss des Parlaments ist – oder umgekehrt.

Interessant war die erste Reaktion von Andreas Khol zu dieser Idee. Er meinte in einem Zeitungskommentar, diese liefe auf eine „Machtübergabe an die FPÖ“ hinaus. Klarer kann der Unterschied zwischen den Politikstilen nicht sein. Die neue Generation will Rahmenbedingungen, um den Wandel zu ermöglichen; die alte Schule denkt hingegen sofort daran, wie das die eigene Machtposition beeinträchtigt. Vielleicht dämmert ihr, dass sie genau wegen dieser Denkungsart abgewählt wurde.

Fazit: Die Intention des Bundeskanzlers, zu einer handlungsfähigen und durchsetzungsstarken Regierung zu kommen, ist verständlich und verdient einen ernsthaften Nachdenkprozess. Dem sollten wir uns stellen, Regierende und die Regierten. Am Ende steht vielleicht ein gänzlich neues Wahlrecht. Allerdings braucht es dazu einen Plan B.

DER AUTOR

Karl Newole (geb. in Klagenfurt) ist Rechtsanwalt in Wien und Absolvent der Johns Hopkins University for International Relations And Law in Washington D.C. und Bologna. Er ist Klubvorsitzender der Unabhängigen Liste „Wir im Ersten“ in der Bezirksvertretung 1010 Wien, die sich parteiungebunden Fragen des kommunalen Zusammenlebens und der zukunftspolitischen Organisation in europäischen Städten widmet. [ Privat]

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2017)

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