"Integrationsunwillig" – lautet der Vorwurf, mit dem sich die türkische Gemeinde konfrontiert sieht. Viele halten das für übertrieben. Doch manche Türken kritisieren selbst, dass eine Parallelgesellschaft entsteht.
Die Schlagwörter aus der neuesten Integrationsdebatte sind an Mehmet Yurtseven und Yusuf Can unbemerkt vorbeigeflogen. Thilo Sarrazin? Integrationsunwillige Türken? Parallelgesellschaft? Die beiden haben andere Sorgen.
Die Teenager stehen im kahlen Eingangsbereich des Arbeitsmarktservice (AMS) für Jugendliche in der Neubaugasse. Links ist die Tür, die zur „Maturaschule Dr. Roland“ führt, rechts die Tür zum „AMS Jugendliche“. Mehmet und Yusuf nehmen die rechte Tür. Sie sind „arbeitssuchend“ gemeldet. Es ist kurz vor zehn Uhr vormittags, in ein paar Minuten müssen die beiden zu ihrem Betreuer. Mehmet, dessen schwarzes Kurzhaar unter einer Wollhaube steckt, hat die HTL abgebrochen, er will im Dezember eine Lehre beginnen; Yusuf, einen Kopf größer und in einer Lederjacke, hat sich im Poly „ein bisschen schwer getan“. „Ich habe die strengste Lehrerin der ganzen Schule gehabt“, verteidigt er sich. Bald wird er einen Berufsorientierungskurs besuchen, um danach eine Lehre zu beginnen. Möglicherweise.
Mehmet und Yusuf tippen auf ihren Handys herum, tragen Jeans und Kapuzenpullis und wohnen im zehnten Bezirk. Den Bildungsaufstieg haben sie verpasst. Dabei sind sie erst 16 Jahre alt. So unspektakulär ihr Lebenslauf, so sicher ist ihnen ein Platz in den negativen Tabellen der Statistik: 12.000 Jugendliche zwischen 15 und 20 sind derzeit beim AMS als arbeitssuchend gemeldet, mehr als 65 Prozent davon haben einen Migrationshintergrund; die Jugendarbeitslosigkeit unter türkischen Jugendlichen lag 2007 bei 18,4, unter österreichischen Jugendlichen bei 7,4 Prozent. Laut einer aktuellen OECD-Studie ist unter den 20- bis 29-Jährigen mit Migrationshintergrund der Anteil der schlecht Ausgebildeten ohne Matura oder abgeschlossene Berufsausbildung dreimal so hoch wie unter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund.
Ist der Fall der beiden Jungs, die auf eine höchst unsichere Zukunft zusteuern, ein Versagen der Integrationspolitik? Liegt es an fehlendem Interesse? Ist die Integration missglückt? Mehmet Yurtseven sieht das anders: „Es ist egal, ob man Österreicher ist oder Türke“, meint er. Und er versteht die Aufregung nicht. „Ich habe kein Problem mit denen.“ Damit meint er die Österreicher. Mehmet ist österreichischer Staatsbürger.
Wer bitte ist Sarrazin? Mehmet und Yusuf kennen Thilo Sarrazin nicht, den Bundesbank-Vorstand und Ex-SPD-Finanzsenator von Berlin, der in einem Interview sagte, ein Großteil der deutschen Türken sei „weder integrationswillig noch integrationsfähig“. Es war Sarrazin, der auch davon sprach, dass die Türken mit einer höheren Geburtenrate Deutschland eroberten und „ständig neue kleine Kopftuchmädchen“ produzierten.
Sarrazin trat eine Debatte los, die sich auch nach seiner Entschuldigung – nicht jede Formulierung sei „gelungen“ gewesen – nicht so rasch legen wird. Für die einen hat er, der als SPD-Mitglied ideologisch relativ unverdächtig ist (anders als etwa FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache), das ausgesprochen, was schon lange unter der Oberfläche des friedlichen Nebeneinanders brodelte; für die anderen sind seine Äußerungen blanker Rassismus. Etwa für Maria Anna Six-Hohenbalken von der Akademie der Wissenschaften: Türkische Migranten als „problematisch“ hinzustellen sei ein historisches Phänomen, so die Kulturanthropologin: „Seit dem 16. Jahrhundert hat es immer wieder Tendenzen gegeben, die Orientalen in ,Gute' und ,Böse' einzuteilen.“
Chancenlose Hilfsarbeiter. Sechs Stockwerke über den Köpfen von Mehmet und Yusuf, im Dachgeschoßbüro des AMS, rätseln Leiterin Gerda Challupner und der Diversitymanager Ali Ordubadi, warum es bei den Zahlen so eine Schieflage gibt – und es gerade die türkischen Kinder und Jugendlichen sind, die am Ende der Statistik stehen. Ihre Eltern seien oft bildungsfern, schlechter ausgebildet als andere Migrantengruppen; es fehlten den Familien Informationen über Schulsystem und Arbeitsmarkt. „Die Eltern haben als Hilfsarbeiter in der Vergangenheit immer Arbeit gefunden“, sagt Ali Ordubadi. „Diese Erfahrung geben sie weiter. Aber der Arbeitsmarkt hat sich geändert. Als ungelernter Arbeiter findet man heute nichts mehr.“
Andererseits gebe es in türkischen Familien oft unausgegorene Vorstellungen, was die Ausbildung der Kinder betreffe. Schon oft hat Ordubadi diesen Satz gehört: „Mein Kind soll Arzt oder Rechtsanwalt werden.“ Wie der ersehnte Titel erreicht werden kann, wissen die Eltern nicht. „Da sind sie hilflos.“ Ordubadi übt aber auch Kritik an der Integrationspolitik: „Wir haben nicht erkannt, dass die Migranten eine andere Form der Erklärung brauchen.“
In neun Monaten wird das AMS in der Sprache des Zielpublikums sprechen: Dann soll eine DVD unter anderem in Türkisch über Schulsystem und Berufsmöglicheiten fertig sein. Die will man dann in Vereinen und Moscheen zeigen – den Vätern, die in den Familien vielfach den Ton angeben. Eigentlich ist es nur eine harmlose DVD. Doch an ihr offenbart sich ein Streit über die richtige Strategie der Integrationspolitik: Sollen Institutionen und Sozialarbeiter Rücksicht auf die Kultur und Sprache der Einwanderer nehmen oder nicht? Menschen wie Sarrazin halten das wohl für vergebliche Liebesmüh.
Margit Wolf, Geschäftsführerin von Interface, einem Anbieter für Sprachkurse wie „Mama lernt Deutsch“, glaubt, dass „respektvoller Umgang ganz wichtig ist“. Wenn sich Frauen für die Deutschkurse anmelden, seien ihre Ehemänner oft mit dabei: Sie sind skeptisch, wollen genau Bescheid über die Inhalte wissen. Ohne die kultursensible Überredungskunst ihrer Mitarbeiterinnen würde man auf keinen grünen Zweig kommen, argumentiert Wolf. „Wir müssen den Männern die Sicherheit geben, dass es sich um einen Sprachkurs handelt und wir nicht gegen sie – als Männer – mobilisieren.“ Den häufig gegen türkische Frauen gerichteten Vorwurf, dass diese kein Deutsch lernen wollten, kann sie nicht nachvollziehen. „Viele kommen aus einem niedrigen Bildungsniveau. Für sie ist es ein großer Schritt, sich bei den Kursen anzumelden.“
Dennoch ist die Bilanz, was etwa Erwerbsarbeit der Migrantinnen angeht, nicht besonders rosig: Die Mehrheit der türkischen Frauen ist zu Hause, allein verantwortlich für Hausarbeit und Kindererziehung. Während knapp 40 Prozent der Türkinnen einer Erwerbsarbeit nachgehen, sind es immerhin zwei Drittel der Österreicherinnen. Gleichzeitig ist das Zuhausebleiben wenig verwunderlich, da türkische Frauen deutlich mehr Kinder bekommen als Österreicherinnen: Während Erstere im Durchschnitt 1,3 Kinder zur Welt bringen, sind es bei Türkinnen doppelt so viele: 2,6. Die Familie bleibt wichtig – ein Leben lang. „In unserer Kultur sind Kinder sehr wichtig“, sagt Ruhi Göler, der im Ankara Market in der Brunnengasse arbeitet. Doch er beobachtet ebenso mit Sorge, dass viele junge Burschen auf der Straße aufwachsen. „So finden sie schlechte Freunde“, befürchtet Göler. Auch der 16-jährige Maki trifft sich mit seinen Freunden lieber ohne Aufsicht der Eltern, am liebsten in der Millennium City. Als „Gang“ oder gar „Bande“ will er seine Freunde aber nicht sehen: „Hier ist viel los, wir hängen einfach nach der Schule ab.“
Türkisch von Kopf bis Fuß. Ein paar Kilometer weiter südlich im einstigen Arbeiterbezirk Favoriten: Keine Gegend, die als Wohnort als besonders attraktiv gilt. Doch rund um den Quellenplatz und Reumannplatz gibt es ein reiches Angebot an türkischen Geschäften. Vom Fleischhauer über den Juwelier bis zum Supermarkt oder Möbelhaus: Selbst wenn man nicht Deutsch spricht, kann man in diesem Grätzl gut durchkommen.
Auch aus der hiesigen Perspektive ist es stimmig, dass der Weg zum Sprachkurs ein weiter ist. „Bei mir sind viele Frauen, die seit 20 oder 30 Jahren in Österreich leben und zum ersten Mal einen Sprachkurs besuchen“, erzählt eine Lehrerin, die anonym bleiben möchte. Sie hält in Favoriten vom AMS geförderte Deutschkurse ab. Drei Viertel der Kursbesucherinnen sind türkische Frauen, fast alle Kopftuchträgerinnen. „Sie leben tatsächlich in ihrer Parallelwelt: Sie sind nur zu Hause oder im Park, gehen nur in türkische Läden“, erzählt die Lehrerin. Der Kurs sei zwar eine „willkommene Abwechslung“ für die Frauen; die Jobsuche – außer vielleicht als Küchenhilfe oder Reinigungskraft – jedoch selten erfolgreich.
So will es die Anthropologin Six-Hohenbalken nicht formulieren: Sie befürchtet, dass die Rede von der „Parallelgesellschaft“ eine solche erst entstehen lässt: „So werden Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen und dazu gebracht, sich nur in ihrer gewohnten Umgebung Kontakte zu suchen“, ist sie sicher.
Während von der Wiener Stadtpolitik selten etwas über gelungenes Zusammenleben in Favoriten zu hören ist, gilt die – ebenfalls türkisch geprägte – Gegend rund um den Brunnenmarkt in Ottakring als multikulturelles Vorzeigeprojekt. Der Markt wurde renoviert, eine Kulturpassage gebaut, auch die Mietpreise sind in den letzten Jahren durch den Zuzug der österreichischen Mittelschicht gestiegen, Stadtplaner nennen das „Aufwertung“ oder, kritischer, „Gentrification“. Die inländischen Zuzügler treffen sich am Yppenplatz zum samstäglichen Brunch, im bekanntesten türkischen Restaurant der Stadt und kaufen ihr Gemüse bei den Händlern am Brunnenmarkt. Doch auch hier ist es größtenteils ein Nebeneinander zwischen Österreichern und Türken: Ein paar Worte beim Einkaufen, viel mehr ist nicht drin. In die türkischen Cafés der Nebenstraßen verirrt sich selten ein Österreicher.
Heimat Österreich. Neydet Karasu sitzt am Tisch des Café ?afak und löst ein Kreuzworträtsel in der Zeitung „Türkiye“, im Fernseher laufen die Nachrichten des türkischen Staatsfernsehens. Karasu ist 60 Jahre alt, manchmal drückt ihn die Brust, vielleicht, weil er bei seinem Job als Lieferant einer Reinigungsfirma schwer zu tragen hat. Er sieht das Leben im Viertel durchaus kritisch. „Wenn zu viele Türken zusammen sind, dann reden alle nur türkisch“, sagt er, der auch im Alter in seiner „zweiten Heimat“ Österreich bleiben möchte. „Man vergisst Deutsch.“
Die 39-jährige Dolunay Yerit ist vor einiger Zeit an den Brunnenmarkt gezogen. „Wegen einer Terrassenwohnung und der guten Infrastruktur.“ Manchmal wundert sich die Juristin, die bei der Wirtschaftskammer als Referentin arbeitet, über ihre Umgebung: „Wenn ich Frauen sehe, die in Pluderhosen herumlaufen und kein Wort Deutsch können, denke ich mir: Da ist was falsch gelaufen.“ Und warum hat es bei ihr geklappt? Ihre Erziehung sei sehr offen gewesen, zu Hause sprach man Türkisch, doch die Eltern pochten auf Deutschlernen und Schulbildung, ebenso auf die „bewusste Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“, erzählt Yerit, die nicht als „Vorzeigetürkin“ gelten will. Dass in Österreich so wenige Migranten in der Verwaltung oder in den Medien zu finden sind, hält sie für ein Versäumnis. „Es fehlen die Vorbilder.“ Yerits eigene Definition von Integration lautet so: „Integration ist dann gegeben, wenn wir uns nicht mehr darüber unterhalten müssen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2009)