Viennale: Monströs gut

(c) APA (Hans Klaus Techt)
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Die Höhepunkte von Wiens Filmfest berichten von amerikanischen Zombies, der deutschen Wende oder Reisfeldern in Thailand. Und von Männern, die gern furzen. Die neun bedeutendsten Programme der heurigen Viennale im Überblick.

Lino Brocka. Der Tribute an den philippinischen Meisterregisseur ist das Herzstück der heurigen Viennale: Lino Brocka (1939–1991) etablierte sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren als einer der großen Namen des Weltkinos, war regelmäßig zu Gast bei den A-Festivals wie Cannes. Brockas kurze Laufbahn – er kam bei einem Autounfall ums Leben – war enorm intensiv: Allein 70 Kinofilme inszenierte er in knapp zwei Dekaden, ganz in der Manier der großen Filmemacher von Hollywoods Studiosystem wechselte er zwischen Herzensprojekten und kommerziellen, dabei keineswegs unpersönlichen Genrefilmen. In den letzten Jahren wurde Brocka in der internationalen Festivalszene wiederentdeckt, auch als Idol einer aufregenden Gruppe unabhängiger Filmemacher von den Philippinen (von denen einige eine Rockband namens „The Brockas“ betreiben). Wichtige Vertreter dieser Gruppe wie Lav Diaz sind mit neuen Filmen auf der Viennale, was einen interessanten Dialog zwischen den Zeiten ermöglicht: So wäre der bewegende Frauenfilm Lolavon Brillante Mendoza ohne Brockas Einfluss undenkbar. Die Auswahl der Viennale beschränkt sich im Wesentlichen auf Brockas große Klassiker: Mitreißende Melodramen wie Maynila: Sa mga kuko ng Liwanag (Manila: In the Claws of Light, 1975) über das Schicksal eines Provinzjungen in der Hauptstadt oder die Mutter-Tochter-Tragödie Insiang (1976) kombinieren außerordentlichen Realismus mit furioser Emotionalität und sozialem Engagement. Dass von den neun präsentierten Brocka-Filmen – dazu läuft auch eine sehenswerte Dokumentation über ihn – drei nur auf Video gezeigt werden, erzählt indessen einiges darüber, wie schwierig es um sein teilweise verschollenes filmisches Erbe bestellt ist. Was den Tribute umso erfreulicher macht.

Tribute to Lino Brocka: Von 23.10. bis 4.11. (fast) täglich in Gartenbau, Künstlerhaus, Metro, Stadtkino.
Survival of the Dead. Seit über vier Jahrzehnten schreibt George A. Romero US-(Kino-)Geschichte – und zwar mit Zombiefilmen.Die Horrorstücke eines großen Humanisten: An Romeros Untoten ist der Zustand der amerikanischen Gesellschaft abzulesen – vom Vietnam-Klassiker Night of the Living Dead (1968) zur bitteren Internetära-Satire Diary of the Dead (2007). Jetzt hat Romero mit dem sechsten Teil seines Zombiezyklus seine umfassendste Untersuchung der conditio humana vorgelegt und mit mythischen Western-Anklängen in Szene gesetzt: In Survival of the Dead haben die Untoten endgültig die Erde überrannt, auf einer kleinen Insel vor der US-Küste spitzt sich indessen die alte Fehde zweier verfeindeter irischer Clans zu. Während die eine Seite versucht, eine Koexistenz mit den Zombies aufbauen, predigt die andere den totalen Vernichtungskrieg: Und nur allzu schnell sind die Kontrahenten hauptsächlich damit beschäftigt, sich gegenseitig zu vernichten. Ein Hauptwerk, das bestätigt, was wir immer schon ahnten: Zombies sind die besseren Menschen.

Termine: 2.11., 24 Uhr, Gartenbau und 3.11., 13.30 Uhr, Künstlerhaus.


Agrarian Utopia. Ein großartiger Film über eine traditionelle Lebensweise, die verdrängt wird: Für seine bitter-ironisch benannte Studie – der Originaltitel Sawan baan na bedeutet in etwa „Himmlische Heimat (im) Feld“ – hat der thailändische Regisseur Uruphong Raksasad für ein Jahr ein Stück Land nahe seines Heimatdorfs gemietet. Darauf bestellen zwei zuvor obdachlose Familien Reisfelder, wobei keine modernen Gerätschaften verwendet werden dürfen (sie wären für die Bauern auch unleistbar). Umrahmt ist der Film von Reden mit leeren politischen Versprechungen, dazwischen wird der alltägliche Überlebenskampf geschildert. Der Zyklus des Reisanbaus bestimmt die Struktur des Films im Großen, im Kleinen sind es wiederkehrende kommunale Handlungen, vor allem das Suchen von zusätzlicher Nahrung und Essen. Die Essenz einer Existenzform, eingefangen in schlichtweg atemberaubenden Digitalbildern: Die Zeitraffer-Landschaftsaufnahmen oder das übermütige Tollen von Kindern durch das Feld zählen zu den beeindruckendsten Anblicken dieses Kinojahrs.

Termine: 1.11., 18.30 Uhr, Urania und 2.11., 15 Uhr, Stadtkino.


Totó. Trotz verdienter Anerkennungen in den letzten Jahren ist der Wiener Peter Schreiner noch immer ein Geheimtipp – dabei ist er viel zu gut, um ein Geheimtipp zu sein. Sein Porträt des etwa fünfzigjährigen Kalabresen Antonio Cotroneo – Spitzname: Totó – ist neben Peter Kerns Blutsfreundschaftein Höhepunkt unter den heuer bei der Viennale ungewohnt stark vertretenen heimischen Filmen. Schreiner folgt dem im Wiener Exil lebenden (und als Kartenabreißer im Wiener Konzerthaus arbeitenden) Totó auf Reisen in die kalabrische Heimat: Eine unbestimmte Sehnsucht treibt ihn an. Schreiners Filme sind nicht Erzählungen, sondern Erfahrungen: In langen Einstellungen und bestechend schönen Schwarz-Weiß-Kompositionen wird tief in die Welt von Totó eingetaucht. Ein außerordentlich bewegender Film.

Termin:28.10., 21 Uhr, Künstlerhaus.


Accident. Das Virtuosenstück unter den Hongkong-Krimis bei der Viennale. Der Filmemacher Cheang Poi-sou, ein lange unterschätztes Genie des Genrekinos, erzählt in diesem trickreichen Thriller – Originaltitel: Yi ngoi – von einer Gruppe Profikiller, die mit einer ungewöhnlichen Methode arbeitet: Die Anschläge sind perfekt getarnt – und zwar als ausgeklügelt inszenierte Unfälle. Aber als bei einem Auftrag die Dinge fatal fehlschlagen, vermutet der zunehmend paranoide Anführer der Gang (er hört auf den entzückenden Namen Brain) eine Verschwörung und ergreift Gegenmaßnahmen. Cheang inszeniert Accident als fesselnden Kopfnuss-Krimi, über lange Strecken wortlos, ganz versunken in eine brillante visuelle Choreografie von verwinkelt konstruierten Manövern – bei denen es sich um Täuschung handeln könnte. Das Resultat ist nicht nur ein cleverer Thriller, sondern auch ein ganz großartiger Film übers Filmemachen. Die Schlüsselfrage: Wie und was wird hier inszeniert?

Termine: 25.10., 1 Uhr früh, Gartenbau und 2.11., 13.30 Uhr, Urania.


Vegas: Based on a True Story. Einer der erschütterndsten Filme der letzten Jahre, ein amerikanischer Alptraum, inszeniert vom bedeutenden iranischen Regisseur Amir Naderi, der in die USA gezogen ist, nachdem in den Achtzigerjahren mehrere seiner Filme im Iran zensiert worden waren. Naderi erzählt von einer Familie von ehemaligen Spielsüchtigen, die sich am Rande von Las Vegas in einem unwirklichen Grenzgebiet zwischen Wüste und Glitzerwelt eine neue Existenz aufgebaut haben. Dann hören sie von einem Millionenschatz auf ihrem Grundstück, den Casinoräuber einst dort versteckt haben sollen: die true story des Titels, nur, dass aus der wahren Geschichte schon längst eine urban legend geworden ist. Bald beginnen die Familienmitglieder wie besessen zu graben – bis ihr Garten der Familie der Wüste gleicht und ihre Existenz in Ruinen liegt. Naderi schildert die nachgerade systematische Selbstauslöschung dieser Verlierer mit beklemmender Lakonie, als eine Tragödie von Shakespeare-Dimensionen, die ganz ungekünstelt wirkt – Laiendarsteller und fast dokumentarische Bilder –, dabei in sorgfältiger Feinarbeit kalibriert wurde. Ein bitterer Bericht aus dem trügerischen Paradies grenzenloser Versprechungen und realer Abhängigkeiten.

Termine: 2.11., 15.30 Uhr, Gartenbau und 4.11., 16 Uhr, Künstlerhaus.

Timothy Carey. Sicher ist es schön, dass die schauspielernde Sympathieträgerin Tilda Swinton als Stargast zur Viennale kommt, aber die filmisch faszinierenderen Tributes gelten Lino Brocka – und dem US-Akteur und -Regisseur Timothy Carey (1929–1994), der zweifellos als eine der exzentrischsten Figuren der Kinogeschichte gelten muss. Als Schauspieler ist Carey vor allem für seine fulminanten Nebenrollen etwa bei Stanley Kubrick und John Cassavetes in Erinnerung: Die Viennale zeigt einige Beispiele, etwa den unvergesslichen Kurzauftritt als zum Tode verurteilter, Kakerlaken zerquetschender Soldat in Kubricks Kriegsfilm Paths of Glory (1957). Aber selbst Careys ausnehmend bizarre Bösewichtdarstellung im löblicherweise auch gezeigten Hillbilly-Billigreißer Poor White Trash(1957/61) bereitet einen nur ungenügend auf das schmale, aber überwältigend verrückte Werk des Inszenators Carey vor. Längst zum Kultfilm geworden ist sein Debüt als Regisseur-Autor-Produzent: In The World's Greatest Sinner (1962) hat Carey selbstverständlich auch die Hauptrolle übernommen – er spielt einen Versicherungsvertreter, der sich nach seinem Erweckungserlebnis bei einem Rockabilly-Konzert kurzerhand in Gott umbenennt, die „Superhuman Being Party“ gründet und mit kreischenden Konzerten (zur Musik von Frank Zappa) eine elektrisierende Präsidentschaftskampagne beginnt. Sein so kurioses wie kontroverses Traumprojekt bearbeitete Carey sein Leben lang weiter, außerdem machte er noch Tweet's Ladies of Pasadena(1970, der wahnwitzige Pilotfilm einer nie realisierten TV-Serie)und denFound-Footage-Kurzfilm Cinema Justice (1972), die wohl größten Raritäten des Viennale-Hauptprogramms. Leider unrealisiert blieb auch Careys letztes Projekt The Insect Trainer, inspiriert vom französischen Zirkuskünstler Le Petoman, dem „größten Furzer der Welt“: Carey hätte darin einen Tellerwäscher gespielt, der des Mordes angeklagt wird, nachdem sein mächtiger Furz eine alte Frau vom Stuhl wirft, die beim Sturz stirbt. Der beste Freund des tragischen Helden: eine Kakerlake. Einen kurzen Bewerbungsfilm für Coppolas dritten Paten-Teil hatte Carey übrigens Godfarter III betitelt. Timothys Sohn Romeo Carey wird kommen, um die Filme vorzustellen und eine Dokumentation über das Leben seines Vaters als Work-in-Progress zu zeigen:Vielleicht wird sie dieses bedeutsame Kapitel der Laufbahn erhellen.

Tribute to Timothy Carey: Täglich von 29.10. bis4.11. in Gartenbau, Künstlerhaus, Metro und Urania.


Material. „Immer bleibt etwas übrig, ein Rest, der nicht aufgeht. Dann liegen die Bilder herum und warten auf Geschichte“, heißt es zu Beginn dieses monumentalen Dokumentarfilms des gebürtigen Ostberliners Thomas Heise: Material bietet fast drei Stunden solcher Bilder, die Heise im Lauf von zwei Dekaden aufgenommen hat, vieles davon unverwendetes Material für andere Dokumentarfilme. Ein Großteil sind Szenen aus der Zeit um 1989: Theaterproben mit Heiner Müller, die Demonstrationen am Alexanderplatz, Gespräche mit Wärtern und Insassen des Gefängnisses in Brandenburg. Heise verwendet ein wenig essayistischen Kommentar und Musik von Charles Ives, aber überlässt es im Wesentlichen den Zuseher, Verbindungen herzustellen. Unmittelbar spürbar ist der Schock von DDR-Bürgern über den Zusammenbruch des Systems, aber vor allem eine Utopie, die danach kurz möglich schien. Heises Film ist der wohl wichtigste filmische Beitrag zum Jubiläum des Wendejahres, weil sich dieses Material dagegen sperrt, in einfache Historismusraster und offizielle Erklärungen eingepasst zu werden. Auf den Punkt bringt es der Kommentator: „Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen.“

Termine: 27.10., 20.30 Uhr, Urania und 29.10., 12 Uhr, Stadtkino.
Monster X Strikes Back: Attack the G8 Summit. Dem Japaner Minoru Kawasaki verdanken wir schon so wesentliche Werke wie Calamari Wrestler, mit diesem Monsterfilm – im Original: Girara ni gyakushû: Tôya-ko Samitto kikiippatsu – hat er sich selbst übertroffen:Ein liebenswertes Gummi-Riesenmonster attackiert Hokkaido, wo gerade G8-Gipfeltreffen ist. Ein Film, der so gut wie alles hat: quietschvergnügte Gigantenkämpfe, abstruse rituelle Tänze, hinreißend blöde Parodien von Merkel (auf Deutsch!) und „Salkozy“ – sowie Takeshi Kitano als rettenden Koloss. Grund genug, das wichtigste Gebot des Kinos zu beherzigen: Du sollst den Mann im Gummianzug ehren!

Termine: 27.10., 23 Uhr, Gartenbau und 30.10., 13.30 Uhr, Urania.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2009)

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