Das gestörte Lustempfinden der Traumfabrik

Fesselnd schon vor „Fifty Shades of Grey“: Das Bibelepos „Sign of the Cross“.
Fesselnd schon vor „Fifty Shades of Grey“: Das Bibelepos „Sign of the Cross“. (c) The Kobal Collection (Archiv)
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Nicht immer war Sex in Hollywood so bieder und steril wie in „Fifty Shades of Grey“, dessen Fortsetzung nun anläuft: Über frühe SM-Szenen und den berüchtigten Verbots-„Code“, raffiniert Tabus brechende Regisseure und die subtile Zensur von heute.

Hollywood pflegt seit jeher ein kompliziertes Verhältnis zu Sex und Erotik. Es ist permanentes Wechselspiel von Genuss und Verzicht, Schamlosigkeit und Prüderie, plumper Anmache und kokettem Flirt. Auf der einen Seite steht der feste (und berechtigte) Glaube an das Credo „Sex sells“, auf der anderen die nahezu pedantische Besorgnis um die Wahrung eines Scheins von Sittlichkeit, der moralisch sensible Kundschaft bei der Stange halten soll. Dass die Traumfabrik auch feuchte Träume herstellt, will sie sich selbst am wenigsten eingestehen. Diese Angst vor dem Imageverlust nahm im Laufe der Filmgeschichte zu – als Reaktion auf gewagte Grenzgänge, die in den frühen 1930er-Jahren ihren ersten Höhepunkt erreichten.

Blütezeit der Fleischbeschau. Das US-Kino der Depressionsära spiegelte die harsche Lebenswirklichkeit des Publikums, indem es realistischer wurde. Es zeigte drastische Gewaltdarstellungen (Gangsterfilmklassiker wie „The Public Enemy“ und das „Scarface“-Original fallen in diese Phase), war aber auch offen für Frivolitäten und Anzüglichkeiten aller Art. Es war die Blütezeit der Fleischbeschau: Filme nutzten jeden nur erdenklichen Vorwand für die Offenbarung nackter Haut. Dass in den Backstage-Musicaleinlagen des Meisterchoreografen Busby Berkeley spärlich verhüllte Showgirls in aufwändigen Massenornamenten über die Leinwand paradieren, lässt sich noch mit Rekurs auf Tanztheatertraditionen erklären. Aber die Umkleide- und dementsprechende Entkleidefrequenz der Hauptdarstellerinnen in William Wellmans Krankenhauskrimi „Night Nurse“ (1931) als erzähltechnische Notwendigkeit zu bezeichnen, wäre absurd.

Die Freizügigkeit der Filme beschränkte sich nicht nur auf die Bedienung begehrlicher Blicke. Auch in Bezug auf überkommene Moralvorstellungen gaben sich viele von ihnen betont rücksichtslos (und zuweilen regelrecht feministisch). Untreue Umtriebe waren ein beliebter Plot-Motor und wurden am Ende nur selten abgestraft. Multitalent Mae West mauserte sich mit promiskuitiven, scharfzüngigen Powerfrauenrollen zum Star. Ein berühmter Wortwechsel mit einem Wahrsager aus „I'm No Angel“ (1933) bringt ihr Image humorvoll auf den Punkt: „Ich sehe einen Mann in ihrem Leben.“ – „Was, nur einen?“ Und wer die Visionen eines unschuldigen alten Hollywoods in zeitgenössischen Nostalgiehits wie „La La Land“ für bare Münze nimmt, sollte sich „Baby Face“ (1933) zu Gemüte führen: Darin entkommt eine Teenagerin (Barbara Stanwyck) der Prostitution durch ihren Vater, indem sie sich gezielt die Karriereleiter hochschläft.

Teufelsweib mit Peitsche. Richtig verrückt spielen durften die Triebe in Genre-Gefilden – teils auch mit sadomasochistischen Untertönen, die „Fifty Shades of Grey“ ziemlich bieder aussehen lassen. Im Exotismus-Abenteuer „The Mask of Fu Manchu“ (1932) wird der halbnackte, gefesselte und geknebelte Held auf Geheiß eines mächtigen Teufelsweibs (Myrna Loy) ausgepeitscht. „Schneller! Schneller!“, schreit sie mit ekstatischem Gesichtsausdruck. Dass diese hemmungslose Hingabe ans Lustprinzip – heute würde man sie wohl „sex-positive“ nennen – im puritanischen Amerika nicht ewig währen konnte, war absehbar, und tatsächlich setzte die Verschärfung des sogenannten „Production Code“ der fröhlichen Lasterhaftigkeit ein Ende. Der „Code“ war eine Selbstkontrollinstanz, die Studios nach einer Skandalserie eingesetzt hatten, um staatlicher Zensur vorzubeugen. Am Anfang nahm ihn niemand richtig ernst, doch nachdem ein paar besonders verwegene Arbeiten – wie Cecil B. DeMilles Bibelepos „The Sign of the Cross“ (1934), das die Christenverfolgung als Sodom und Gomorra inszenierte – heftige Proteste einflussreicher religiöser Gruppierungen nach sich gerufen hatte, wurde er zunehmend wichtig. Das strenge Korsett verdammte die filmische Sünde zum Schattendasein. Seine Gebote umfassten Moralvorschriften (die Unantastbarkeit des Ehesakraments) ebenso wie Sinnlichkeitsbeschränkungen – „exzessive, wollüstige Küsse“ gehörten der Vergangenheit an, Perversionen waren komplett untersagt.

Warner Bros.
Howard Hughes Productions
Lawrence Turman Productions
Galactic Films



Kreative Doppeldeutigkeiten. Doch der Reiz des Verbotenen ist stärker als jedes Gesetz. Filmemacher fanden kreative Methoden, um die Restriktionen zu umgehen. Manche wandelten auf den Spuren von Ernst Lubitsch, dem Meister taktvoller Doppeldeutigkeiten: Wenn Bogart und Bacall in „The Big Sleep“ (1946) über Pferderennen diskutieren, weiß jeder, was wirklich gemeint ist. Andere servierten heiße Liebe in Häppchen, wie Hitchcock in „Notorious“: Dort brechen Cary Grant und Ingrid Bergman ihren innigen Kuss immer wieder ab, ohne die Leidenschaft wirklich zu dämpfen.

Ein Nebeneffekt des Mangels an expliziter Lustbekundung war überdies, dass relativ harmlose Kinogesten sexuell stark aufgeladen wurden. Mit der Zeit entstand ein regelrechter Parallel-„Code“ schlüpfriger Symbolhandlungen: Rauchen galt zwar schon vorher als Verführungs-Accessoire, aber jetzt stieg es zur erotischen Zentralmetapher auf, nicht nur im phallischen Sinne. Eine der laszivsten Zigarettenszenen steht am Ende des Melodrams „Now, Voyager“ (1942), als Paul Henreid sich zwei Tschick zwischen den Lippen anzündet und eine davon an Bette Davis weiterreicht: Auf den Abschlusskuss konnte danach verzichtet werden.

Knappe zwei Jahrzehnte blieb das Keuschheitsregime halbwegs intakt, doch die sukzessive Liberalisierung der Nachkriegsgesellschaft machte vor Hollywood nicht halt. Schon 1946 brachte Howard Hughes' Western „The Outlaw“ die Legitimation des „Codes“ ins Wanken. Seine Werbekampagne mit Fokus auf Jane Russells Oberweite hatte drei Jahre vorher den Zorn der Zensoren auf sich gezogen und einen ordentlichen Kinostart verhindert. Nun lief der Film doch an, mit riesigem Erfolg. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Filmbeschneider selbst den Tod der tausend Schnitte sterben mussten: Eine Welle pikanter europäischer Kunstfilme und strategische Provokationen cleverer Regisseure – etwa jene des Exil-Österreichers Otto Preminger – gruben ihnen Stück für Stück das Wasser ab.

Spätestens die Regieoscar-Auszeichnung des Verführungsdramas „Die Reifeprüfung“ 1968 machte das alte System obsolet. An seine Stelle trat umgehend ein Neues: Der Großstudioverband MPAA wollte sich nun auf unverbindliche Altersempfehlungen fürs Publikum beschränken. Wie schon in den Dreißigern fielen diese anfangs recht lax aus und ließen der New-Hollywood-Generation verhältnismäßig freien Lauf in Liebesdingen – es war ja auch die Zeit von Pop-Pornos à la „Deep Throat“. Doch die Rückkehr des Puritanismus ließ nicht lange auf sich warten. Kim Basingers und Mickey Rourkes erotische Eskapaden mit Eiswürfeln und Schokolade in „9½ Wochen“ (1986) gelten heute als Schablone für geschmackvolle Softcore-Unterhaltung, in etwa so skandalträchtig wie Kuschelrock; in die US-Kinos kamen sie damals trotzdem nur geschnitten.


Schamhaare getrimmt.
Die Bilderbereinigung ging schleichend von statten und wirkte subtiler als früher: Statt Sex im Kino einen Riegel vorzuschieben, wurden bloß die Schamhaare der Filme getrimmt, um jede Spur von Schmuddeligkeit zu tilgen. Ganz buchstäblich: Der flüchtige Anblick von Maria Bellos Pubes in „The Cooler“ (2003) trieb dessen Altersfreigabe in den Grenzbereich. Das Zensurargument gilt heute nicht mehr, schließlich sind die Bewertungen der MPAA nicht bindend. Aber wer sie nicht akzeptiert, wird seine liebe Not damit haben, einen Film großflächig herauszubringen und zu vermarkten.

Das ist der Grund, warum moderne US-Leinwandschäferstündchen in den meisten Fällen aussehen wie Dessous-Werbung: sauber, schweißlos und steril. Mit ihren SM-Fantasien aus dem Quelle-Katalog ist die „Fifty Shades of Grey“-Verfilmung emblematisch für den Status quo. Kommende Woche startet die Fortsetzung in den heimischen Kinos. Vielleicht traut sie sich ja, ein bisschen über die Stränge zu schlagen – aber sehr wahrscheinlich ist es nicht.

Ungeniert im Film

„Call Her Savage“.Ein fröhlicher Ehebruchsreigen mit dem Stummfilmstar Clara Bow.

„Female“. Eine Firmenchefin nutzt ihre Angestellten als Lustknaben.

„The Mask of Fu Manchu“. Im Kerker setzt es Peitschenhiebe für den halbnackten Held.

„Red Headed Woman“: Jean Harlow als selbstbewusste Sirene mit Masochismusader.

„Night Nurse“: Krankenhauskrimi mit skandalöser Umkleide-Frequenz.

„Design for Living“: Hollywoods erste Ménage à trois ohne Moralzeigefinger.

Werke von E. Lubitsch und anderen „Pre-Code“-Filmautoren sind ab 10. Februar im Wiener Filmmuseum zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2017)

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