Antrittsbesuch des deutschen Außenministers in Wien bei sozialdemokratischen Freunden und ein Abtasten mit dem Amtskollegen Kurz.
Wien. Gestern Wien und Rom, ab heute Tallinn, Riga, Vilnius und Kiew: Dies ist das wenig familienfreundliche Wochenprogramm des Außenministers Sigmar Gabriel, der als einen Grund für seinen Rückzug als SPD-Chef vor einem Monat angab, sich künftig als Jungvater mehr um die Familie kümmern zu wollen. Bei seinem Antrittsbesuch in Österreich hatte erst einmal die Parteifamilie Vorrang. Ehe Sebastian Kurz seinen deutschen Amtskollegen auf dem Minoritenplatz in Empfang nahm, traf Gabriel auf dem Ballhausplatz mit seinen sozialdemokratischen Parteifreunden, Bundeskanzler Christian Kern und dem weiterhin hochaktiven Ex-Bundespräsidenten Heinz Fischer, zusammen. Kern machte kein Hehl daraus, wie sehr das momentane Umfragehoch der SPD auch den europäischen Schwesterparteien Auftrieb verleihen könnte.
Im Grunde drehten sich die Gespräche im Bundeskanzleramt wie im Außenministerium um die „Neuvermessung der Welt“, wie Gabriel es formulierte, um die Herausforderungen für Europa nach der Wahl Donald Trumps und dem Brexit-Votum. In Wien wie in Berlin geht die geopolitische Analyse von einer Stärkung der Rolle Chinas und Asiens aus, von einem möglichen Vakuum in den transatlantischen Beziehungen angesichts der nationalistischen Tendenzen in den USA und davon, dass Russland – in den Worten Gabriels – ein „schwieriger, aber wichtiger Partner“ bleiben werde.
Soziale Marktwirtschaft
„Es liegt in Trumps Interesse, Europa zu schwächen“, erklärte Kern. „Es ist daher ein Gebot der Zeit, die Interessen Europas konsequent und stark zu vertreten.“ Davon ist neuerdings allerorts die Rede, zuletzt bei der Münchner Sicherheitskonferenz – und von der Notwendigkeit einer EU-Reform.
Kern legte den Akzent indessen auf die Sozialpolitik. Schon Werner Faymann, sein Vorgänger, hatte mit den Parteifreunden in Deutschland, Schweden, Frankreich und Italien eine Initiative gestartet, die die soziale Komponente in der EU forcieren sollte. Wachstum für alle, Beschäftigung für möglichst viele, faire Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, gegen Lohn- und Sozialdumping: Dies sind Prämissen des SPÖ-Chefs für ein neues Europa. Gabriel, der als SPD-Chef Stammgast hochrangiger sozialdemokratischer Gesprächsrunden war, will nun ein Schlagwort wiederbeleben, das den Diskurs in den 1970er- und 1980er-Jahren geprägt hat: die soziale Marktwirtschaft, ursprünglich von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) in der Nachkriegszeit propagiert.
Im Außenamt am Minoritenplatz eröffneten Sebastian Kurz und Sigmar Gabriel die Pressekonferenz danach mit einem Austausch von Freundlichkeiten. Es war ein erstes, näheres Abtasten der beiden. „Wir leben in einer großen Phase des Umbruchs. Wir sollten dies als Chance begreifen“, betonte Kurz und stieß mit seinem Plädoyer für einen Kurswechsel in der EU auf großteils offene Ohren bei seinem Gegenüber. Umgekehrt sprach Gabriel seinem Gastgeber aus der Seele: „Bei der Integration innerhalb der EU sind wir an unsere Grenze gestoßen.“ Auch sein Appell für weniger Verzagtheit war nach dem Geschmack von Sebastian Kurz. Schließlich sei die EU, so Gabriel, das „größte Zivilisationsprojekt des 20.Jahrhunderts“. Die gegenwärtigen Probleme seien vergleichsweise gering gegen jene der Nachkriegszeit. Deutschland – im Übrigen ein „Nettogewinner“ – und Österreich hätten ja ein ähnliches Verständnis von der EU. Gabriel warnte: „Wenn wir zum Nationalstaat zurückkehren, werden uns unsere Kinder und Enkelkinder verfluchen.“
„Weniger Mikromanagement“
Zugleich urgierte der deutsche Außenminister: „Europa muss sich weiterentwickeln.“ Europa müsse endlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufbauen, die über den gemeinsamen Grenzschutz hinausgehe. Außerdem wünscht er sich „weniger Mikromanagement aus Brüssel“.
Wo Kurz mitunter von Subsidiarität sprach, redete Gabriel von Solidarität. Bei der Flüchtlingspolitik traten die Differenzen zwischen dem konservativen Gastgeber und seinem sozialdemokratischen Gast offen zutage. In der Beurteilung der von Hungersnot und Krieg gekennzeichneten Lage in Nord- und Ostafrika waren sie sich noch einig. „Wenn wir die Entwicklung nicht stoppen, werden wir Zeuge einer weiteren Flüchtlingswelle werden“, sagte Gabriel. „Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen.“ Während Kurz Aufnahmelager in Libyen gutheißt, um den Schlepperbanden die Grundlage zu entziehen und das Sterben im Mittelmeer zu beenden, hält Gabriel die Option indes für weniger realistisch. „Mit wem soll man denn in Libyen einen Staat machen?“
Der Bogen zur Ukraine-Krise und der Rolle der OSZE war dann zwar weit, der Konsens zwischen Kurz und Gabriel jedoch wieder intakt. Draußen wartete derweil bereits der Konvoi zum Flughafen – und in Rom Außenminister Angelino Alfano, der nächste Gesprächspartner Gabriels.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2017)