Die Türkei auf dem Weg zur Twin-Community

Europa muss selbst definieren, was es sein will: nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ideologisch.

Nicht nur bei den Türken im Ausland (wie dies jüngste Studien belegen), sondern vor allem in deren Heimat entsteht eine „Twin-Community“, eine Zwillingsgesellschaft. Schon seit geraumer Zeit ist in der Türkei eine Entwicklung zu beobachten, wonach die Gesellschaft in zwei Teile auseinanderbricht. Die eine Gruppe ist westlich orientiert, bestens gebildet, weltoffen. Sie will eine moderne Türkei, die selbstbewusst ihren Platz an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien wahrnimmt. Für sie ist der Islam eine Religion wie jede andere, die in der Politik nichts zu suchen hat.

Die andere Gruppe lebt in einer traditionalistischen Umwelt, ist überdurchschnittlich mangelhaft gebildet, steht fremden Einflüssen, neuen Entwicklungen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Für sie ist der Islam nicht nur Religion, sondern der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen sich das Leben abzuspielen hat.

Die Politik des türkischen Premierministers, Recep Tayyip Erdoğan, prägt dieses Zwillingsgesicht. Auf der einen Seite hat die Türkei einen starken Wirtschaftsaufschwung zu verzeichnen, der sich bis in die östlichsten Städte des Landes bemerkbar macht, den Lebensstandard nachhaltig verbessert hat und Investoren anlockt. Auf der anderen Seite werden demonstrativ und zunehmend Akte gesetzt, die den Eindruck erwecken, dass vom Grundsatz des Laizismus – also der Trennung von Staat und Religion – abgegangen wird. Das führt zu bedenklichen Entwicklungen: So müssen Männer, deren Frauen kein Kopftuch tragen, überall dort mit Nachteilen rechnen, wo die Regierung Einfluss ausübt. Manche Bürgermeister zahlen jungen Frauen sogar Geld dafür, wenn sie sich zum Kopftuchtragen entschließen.

Das Problem der Erdoğan-Regierung ist, dass sie mit ihrer Politik die Bedürfnisse vor allem jener Gruppe anspricht, die ihr die Mehrheit sichert. Und das ist eben jene Wählerklientel, die den traditionellen, auch fundamentalistischen gesellschaftlichen Normen und Zwängen unterliegt. Damit aber wird ein Keil in die türkische Gesellschaft getrieben, was eben zur „Twin-Community“ führt.

Bei den diesjährigen Kommunalwahlen hat sich dieses Auseinanderdriften im Wahlverhalten bemerkbar gemacht. Die Zustimmung zur Regierungspartei AKP hat einen Dämpfer erhalten. Sie fiel von 46 auf 40Prozent zurück, konnte allerdings in jenen Landesteilen, die eher im Inneren liegen, wo die Sittenwächter über Recht und Ordnung wachen, unverändert Stimmen sammeln. Die CHP, die gewissermaßen das Atatürk-Erbe verwaltet, schaffte nur 28 Prozent, punktete aber vor allem in Städten wie Istanbul, Izmir und Antalya, die weltoffen, Europa zugewandt sind. Es ist übrigens kein Wunder, wenn Urlauber, die aus diesen Regionen heimkommen, davon berichten, sie hätten in der Türkei viel weniger Frauen mit Kopftüchern gesehen als etwa am Wiener Brunnenmarkt. In diesen Städten pulsiert das Leben, trifft man auf junge Menschen, die mit den alten Fesseln brechen wollen, hat man das Gefühl, dass sich die Frauen nicht dem Diktat der Männer unterordnen. Aber das ist nur der eine Teil der Türkei.

Die Heimat nachtragen

Wie Berlusconi sucht auch Erdoğan (mit zum Teil fragwürdigen Methoden) die veröffentlichte Meinung unter seinen Einfluss zu bekommen. Gelungen ist dies mittlerweile mit der Tageszeitung „Sabah“ und dem TV-Kanal ATV, der zur Sabah-Gruppe gehört. Dass es Erdoğan nicht nur um die Türken zu Hause, sondern auch draußen in der Welt geht, zeigt der Plan, den türkischen TV-Sender ATV auch im deutschen Raum – konkret ist Köln im Gespräch – anzusiedeln. Der Plan, der dahinter steht, ist klar. Man will jenen Türken, die ausgewandert sind, ihre Heimat gewissermaßen nachtragen, damit sie nicht zu sehr entwurzelt werden. Hier liegt auch eine von vielen Ursachen, warum sich zum Beispiel Türken so schwer tun, sich in dem Land, in das sie ausgewandert sind, zu integrieren. Der Unterschied zu den Migrationsbewegungen zu Beginn des 20.Jahrhunderts ist, dass damals die Menschen aus Galizien, der Bukowina, aus Böhmen nach Wien kamen und eigentlich von zu Hause abgeschnitten waren. Es gab kein Fernsehen, kein Radio, man musste froh sein, wenn man einmal im Monat einen Brief von daheim bekam. Die Migranten von damals hatten nur eine Wahl, nämlich sich einzugliedern. Heute sieht die Situation ganz anders aus. Man lebt auch im Ausland meistens im Verband gleich gesinnter Menschen, der Familie, die man nachgeholt hat. Man verlässt sein Zuhause nur, wenn es morgens zur Arbeit geht. Abends kehrt man in eine Umwelt zurück, die fast jener von zu Hause gleicht. Das Fernsehen bringt via Satellit die Heimat nach Berlin Kreuzberg ebenso wie nach Wien Ottakring.

Es wäre allerdings völlig falsch und hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten, würde man nun in den Tenor jener fallen, die der Meinung sind, dass die Türkei nichts in der EU zu suchen hat und man daher so schnell wie möglich den Rollbalken zumachen muss. Mehr denn je, und das zeigt die aktuelle Entwicklung in dieser sensiblen Region, ist die Türkei aus wirtschaftlichen, sozialen, politischen und strategischen Gründen viel zu wichtig für Europa, und damit für die westliche Welt, um ihr die (EU-)Türe vor der Nase zuzuknallen. Mehr denn je sollte es Aufgabe der EU sein, den Prozess der gesellschaftlichen Reformen in der Türkei vorantreiben zu helfen. Denn (und auch das ist einerseits ein Verdienst von Erdoğan, anderseits aber auch typisch für das Zwillingsgesicht) im Gefolge seiner Politik, den Schulterschluss mit der EU zu erreichen, kam es zu einer Fülle von Reformen, insbesondere auch im Bereich der Rechtsordnung.

Auf dem Weg zum Rechtsstaat?

Diese wird schrittweise an europäische, internationale Normen angepasst und ist geeignet, aus der Türkei einen modernen Rechtsstaat zu formen. Genau in diese Richtung muss weiter investiert werden. Wie dann am Ende dieser Prozess das Verhältnis EU zur Türkei aussehen lassen wird, kann heute noch gar nicht treffsicher gesagt werden. Mitunter hat man nur das Gefühl, dass eine gewisse Ratlosigkeit im sogenannten westlichen Lager herrscht, wozu auch die türkische Parteienlandschaft ihren Beitrag leistet. Die AKP, also die Erdoğan-Partei, genießt einen Beobachterstatus bei der konservativen, christlichen EVP und steht in Konflikt mit so manchen, die das christliche Abendland verteidigen wollen. Die CHP, also Atatürks Erben, wiederum ist Mitglied der Sozialistischen Internationale, muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, in ihrer realen Politik keinen Sozialismus zu vertreten.

Einmal mehr: Europa muss selbst definieren, was es sein will. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ideologisch.

Mag. Herbert Vytiska ist Politik- und Medienberater.

Er war 15 Jahre lang Pressesprecher von

ÖVP-Außenminister Alois Mock.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2009)

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