Zeit unter dem Mikroskop

Warum Großes für uns erst im Kleinen Kontur gewinnt: Comics zu 20 Jahren Mauerfall, Erstem Weltkrieg, heimischen Punks, Menschennatur, Weltliteratur und der Schöpfung überhaupt.

Geschichte, wie wir sie erleben,kommt ja selten mit Kapitelüberschriften daher. Als Kolumbus im Oktober 1492 seinen Fuß auf vermeintlich hinterindischen Boden setzte, wusste er nichts von einer neuen Zeit. Als Böhmens protestantische Stände im Mai 1618 zwei kaiserliche Statthalter samt einem Schreiber aus der Prager Burg warfen, konnten sie nichts von einem Dreißigjährigen Krieg ahnen. Und als Erich Honecker in der Silvesternacht 1988 – wir wollen vermuten mit Rotkäppchensekt – auf das neue Jahr anstieß, mag ihm vielleicht die anstehende Feier zum Jubiläum 40 Jahre DDR, aber gewiss nicht so etwas wie eine Wende vor Augen gestanden sein – und dass er die nächste Silvesternacht ausgeschlossen aus seiner Partei und des Hochverrats angeklagt verbringen würde.

Häufig ziehen historische Zäsuren, wie sie später Chroniken und unser Denken strukturieren, zunächst an uns wenig beachtet vorbei, bleiben der Nachbetrachtung aus angemessener zeitlicher Distanz vorbehalten. Und was wir – im Gegenzug – womöglich im Heute für bedeutsam halten, ist nicht selten schon morgen marginal. Wie viele Mütter aller Krisen, Kriege, Katastrophen haben wir, zumal in medial hysterisierten Zeiten, schon ins Land ziehen gesehen, die nur wenig später, zum weggelegten Phrasenkind regrediert, keiner seiner Publizistenväter mehr kennen wollte.

Selbst wenn sich einmal Großes in unsere unmittelbare Nähe vorwagt: Unser Alltag verhüllt es, deckt es zu. So wurde ich zwar ausgerechnet am 4. November 1989 auf den Berliner Alexanderplatz gespült, doch die Aussicht, dort Zeuge, ja Teilnehmer der mächtigsten Demonstration gegen das DDR-Regime zu werden, ging in der Banalität der Frage unter, wie denn unter der angekündigten halben Million Menschen ausgerechnet jene beiden Bekannten aus Dresden zu finden sein würden, mit denen ich mich schon Wochen davor ausgerechnet für diesen Tag ausgerechnet auf dem Alexanderplatz verabredet hatte. Ganz abgesehen davon, dass gar nicht so sicher war, an jenem Tag von Westberlin, meinem Quartier, in den Osten vordringen zu können, musste man doch unter den gegebenen Umständen jederzeit damit rechnen, die DDR-Behörden könnten die Grenze kurzfristig schließen.

So ist mir die Erleichterung noch gut in Erinnerung, die ich spürte, als ich den Grenzübergang im Bahnhof Friedrichstraße hinter mich gebracht hatte, wann und wo ich hingegen das erste Mal auf den Zug der Demonstranten stieß, schon Unter den Linden, vielleicht erst jenseits der Spree – ich weiß es nicht mehr. Und die Plakate und Parolen, die vermutlich an mir vorbeizogen, die Reden einer Christa Wolf und eines Ulrich Mühe, all das ist mir wie einem, der gar nicht dabei war, einzig aus Dokumentationen und Büchern geläufig. Stell dir vor, es passiert Geschichte, du gehst hin, aber du nimmst einfach keine Notiz davon, weil dich in diesem einen Augenblick eben nicht die erhabenen Zeitläufte interessieren, sondern die triviale Mühsal des Moments plagt.


Es sind solche Episoden des Kleinen im Großen, die eine der wundersamsten Comic-Neuerscheinungen der vergangenen Jahre und die womöglich bewegendste Publikation zum Fall der Berliner Mauer prägen: Der in Darmstadt aufgewachsene und in Berlin arbeitende Zeichner Flix, schon mehrfach durch seinen subtil ironischen Blick auf ganz normale Lebensrealitäten, nicht zuletzt die eigenen, aufgefallen („Held“, „Mädchen“, jüngst „Der Swimmingpool des kleinen Mannes“, alle bei Carlsen, Hamburg), hat sich in seinem Freundes- und Bekanntenkreis nach Erinnerungen an den Arbeiter- und Bauernstaat und dessen überraschend schnelles Abhandenkommen umgehört und daraus ein Geschichtsmosaik aus sorgfältigst ausgearbeiteten Miniaturen komponiert.

Denn nein, es sind keine Gschichterln, die hier auf Pointe komm raus ausgequetscht werden, es sind präzise Beobachtungen, in deren Details sich eine Wirklichkeit spiegelt, von der nur das Private erzählen kann: wie Oliver Westliteratur zu seiner Ostberliner Freundin schmuggelte; warum Yvonne ihrem DDR-Kinder-Traum, Ernst-Thälmann-Pionier zu werden, noch heute nachhängt; und wieso Jan glaubt, er hätte den Fall der Mauer verhindern können. „Da war mal was . . .“ (96S., geb., €15,40; Carlsen Verlag, Hamburg): Zeit, mikroskopiert. Befund: widersprüchlich, irgendwo zwischen Lächerlichkeit und Bedrohlichkeit, Poesie und Ernüchterung.


Auch Simon Schwartz sucht – und findet – im Privaten das Politische: Seine eigene, noch recht kurze, aber doch einigermaßen inhaltsreiche Biografie hat der deutsche Illustrator, Jahrgang 1982, in sein Comicdebüt gefasst: „Drüben!“ (120S., brosch., €14,95; Avant Verlag, Berlin) erzählt von einer Kindheit zwischen Ost und West, von den Repressalien, denen sich seine Eltern als angehende „Republikflüchtlinge“ ausgesetzt sahen, bis ihr Ausreiseantrag genehmigt war, von den schwierigen Anfängen im Westen und vom disparaten Verhältnis zu den in der DDR verbliebenen Großeltern, hie linientreu, da regimekritisch. Schwartz' Blick in die Vergangenheit: knapp, lakonisch, so unsentimental wie es nur der Blick eines Kindes sein kann – weil es noch keine andere Geschichte als die eigene kennt.


Noch einmal Mauerfall, noch einmal Kindheit, aber diesmal mit sozusagen didaktischem Mehrwert: „Grenzgebiete“ (48S., geb., €15,40; Gerstenberg Verlag, Hildesheim). Die Illustratorin Claire Lenkova, in Zwickau geboren und 1989, knapp vor der Wende, mit Eltern und jüngerem Bruder nach Bayern „ausgesiedelt“, ergänzt ihre Erzählung vom Leben an und mit einer unüberwindlich scheinenden Grenze durch erklärende Einschübe zu den historischen Hintergründen, was auch, aber nicht nur jüngeren Lesern dienlich sein mag: Wie viele durchaus ältere Jahrgänge im Westen werden denn so ganz genau präsent haben, was zum Beispiel mit „Intershop“, „Bautzen II“ oder „gesellschaftlich nützlicher Arbeit“ gemeint war.


Aufklärungüber weiter zurückliegende Geschichte haben sich der französische Zeichner Jacques Tardi und der Historiker Jean-Pierre Verney vorgenommen: Es sind die Gräuel des Ersten Weltkriegs, die Tardi seit Jahren immer wieder beschäftigen („Grabenkrieg“, „Soldat Varlot“, beides Edition Moderne, Zürich) und denen er sich immer wieder in expressiven Bildern – und stets jenseits eines platten Pseudorealismus – zu nähern sucht. Für den Zweibänder „Elender Krieg“ hat er sich mit Jean-Pierre Verney fachliche Kompetenz gesichert und ein Geschichtsbuch der ganz anderen Art verfasst: nicht eines aus der Perspektive von Kaisern, Königen und Generälen, nicht eines der Jahreszahlen und Schlachtendaten, sondern eines direkt aus dem Schützengraben: voll Blut, Elend, Verzweiflung, Sinnlosigkeit. Band eins, die Jahre 1914 bis 1916 umfassend (72S., geb., €19,80; Edition Moderne, Zürich), liegt vor, Band zwei ist für das kommende Frühjahr angekündigt.


„Was ist der langsamsteSelbstmord? Geboren zu werden und abzuwarten, bis es vorbei ist“, notiert Ulli Lust 1984. Da ist die gebürtige Wienerin gerade einmal 17 Jahre alt – und will nicht länger warten. Worauf denn auch? Gemeinsam mit einem zweiten Punk-Mädchen bricht sie aus und auf aus ihren besseren Verhältnissen, dorthin, wo sie die wirklich guten, also das Leben an sich vermutet: nach Italien. Ohne Geld, ohne Pass, nur mit einem Schlafsack und einem einzigen T-Shirt zum Wechseln. Zwei Monate später wird sie zurückkehren, ziemlich viele Illusionen ärmer, eine Reihe – teils einigermaßen herber – Erfahrungen reicher.

Und wenn sie heute, mittlerweile Comiczeichnerin und -verlegerin in Berlin, davon berichtet, dann hat die Distanz der Jahre weder ihren Blick verklärt noch so weit verdüstert, als habe ihr Damals mit ihrem Heute nichts zu tun. Alles bleibt an seinem Ort, das Schäbige bleibt schäbig, das Erniedrigende erniedrigend, die schwachen Stunden eines kleinen Jugendglücks bleiben so glücklich, wie sie vielleicht tatsächlich waren: „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ (464S., brosch., €29,95; Avant Verlag, Berlin).


Von Ulli Lust zu Jiro Taniguchi: Sehr viel unterschiedlicher lässt sich das Vokabular zeichnerischer Sprache kaum denken. Hier die rotzige Rauheit einer Strichführung, die direkt aus dem Moment zu kommen scheint, so als habe man all das nur hastig, impulsiv hingeworfen; da filigran ziselierte Preziosen, in denen nichts, aber schon gar nichts dem Zufall überlassen bleibt. „Von der Natur des Menschen“ ist Taniguchis zuletzt auf Deutsch erschienener Band betitelt (224S., brosch., €15,40; Carlsen Verlag, Hamburg), in dem man wieder einmal die unendlich verfeinerte Kunst des Manga-Meisters aus dem japanischen Tottori bewundern kann.

Es sind acht Kurzgeschichten von Ryuichiro Utsumi, die Taniguchi hier als Vorlagen gewählt hat – und darin mag für manche (europäische) Leser ein Problem liegen: Wo Utsumi von Werten wie Würde und Respekt erzählen will, klingt es für unsere Ohren eher nach demütiger und demütigender Unterwerfung. Wem das ein wenig zu japanisch vorkommt, dem sei Taniguchis im vergangenen Frühjahr auf Deutsch erschienener „Spazierender Mann“ empfohlen (168S., brosch., €14,40; Carlsen Verlag, Hamburg): schlichte Alltagsbeobachtungen, die kaum Worte brauchen, um sprachlos zu machen – ein stiller Triumph der Entschleunigung.


Sehr viel speediger geht es naturgemäß zu, wenn „100 Meisterwerke der Weltliteratur“ auf je eine Seite gepresst werden: Das Berliner Comicmagazin „Moga Mobo“ hat Zeichner vor allem aus dem deutschsprachigen Raum eingeladen, entsprechende Comicdestillate herzustellen. Entstanden ist daraus ein munteres Kompendium verschiedenster Stile – und so ganz nebenbei ein Literaturkanon, der mit etlichen Überraschungen aufwartet: Da findet sich „Emanuelle“ genau zwischen Hoffmanns „Elixieren des Teufels“ und Goethes „Faust II“, Edgar Wallace' „Frosch mit der Maske“ zwischen Camus' Erzählung „Der Fremde“ und Capotes „Frühstück bei Tiffany“, und sogar Erich von Däniken kommt zu Bild, mit seiner Außerirdischen-Apologie „Wir sind alle Kinder der Götter“ (112S., geb., €10,30; Ehapa Verlag, Köln).


Und wo wir schon ins Überirdische vorgedrungen sind, brauchen wir auch nicht vor der Bibel haltzumachen. Deren Beginn, „Das Buch Genesis“, hat sich allerdings einer vorgenommen, der bis dato eher dem Irdischen zugewandt schien: Robert Crumb, Ziehvater des amerikanischen Underground-Comic. Entsprechend saft- und kraftvoll treten uns denn auch Adam und Eva, Kain und Abel und selbstredend auch Gott selbst entgegen: kein bisschen Meta-, pure Physis.

„Falls meine gänzlich wortgetreue grafische Umsetzung den einen oder anderen Leser schockieren oder in seinen Gefühlen verletzen sollte, kann ich zu meiner Verteidigung nur sagen, dass ich meine Aufgabe lediglich darin gesehen habe, den Text zu illustrieren, ohne ihn in irgendeiner Weise ins Lächerliche zu ziehen oder für visuelle Kalauer zu missbrauchen“, erklärt Crumb im Vorwort – und hat recht.

Gewiss: Nicht jeder, der an den niedlichen, ins vermeintlich Erhabene geglätteten und jedenfalls ganz und gar schamhaften Heiligenbildchen-Ton gewöhnt ist, mit dem uns Bibelausschmücker sonst so oft quälen, wird sich mit den widerspenstigen, derb-archaischen Darstellungen Crumbs anzufreunden vermögen; aber so deftig alttestamentarisch wie bei ihm haben wir das Alte Testament noch kaum je zu sehen bekommen (228S., geb., €30,80; Carlsen Verlag, Hamburg). ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2009)

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