Tariq Ramadan: „Islam ist eine österreichische Religion“

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Ramadan, einer der wichtigsten islamischen Intellektuellen im Westen, sieht im "Presse"-Interview die Opferrolle als wichtigste Quelle islamischer Gewaltbereitschaft und fordert neues muslimisches Selbstbewusstsein.

Die Presse: In Ihrem jüngsten Buch, „Radikale Reform“, empfehlen Sie den Muslimen einen Wechsel von der Defensive in die Offensive.

Tariq Ramadan: Wir müssen von einer „Reform als Adaption“ zu einer „Reform als Transformation“ kommen. Wir sind nicht da, um uns einer Welt anzupassen, in der es Krisen gibt, sondern wir sind dazu da, diese Welt zum Besseren zu verändern. Und ich sage, dass man sich nicht nur auf die Textgelehrten verlassen kann, sondern dass man auch Kontextgelehrte braucht. Wir brauchen Leute, die sich in allen Gebieten der Wissenschaften auskennen, damit wir bessere Grundlagen für eine globale islamische Ethik haben.


Zunächst gehen Sie aber ganz bewusst zurück zu den Fundamenten, zum Koran und der Prophetentradition. Sie nennen sich ja selbst einen „Reform-Salafisten“.

Ramadan: Der Punkt ist: Wenn Sie sich heute mit dem Islam und mit den Muslimen beschäftigen und ihnen erklären, dass der Text, der Koran, nicht so wichtig ist, werden die Ihnen nicht einmal zuhören, geschweige denn folgen. Für praktizierende Muslime ist klar, dass sie bei allem, worüber sie heute debattieren, zunächst zurückgehen müssen zu den Quellen, also zum Koran und in die Fußstapfen der ersten drei Generationen. Die Frage ist nicht, ob man zu den Quellen zurückgeht, sondern wie: Mit einem literalistischen, wörtlichen Verständnis oder mit der Überzeugung, dass manche Dinge kontextualisiert werden müssen. Unsere Zeit braucht Veränderung. Das gilt für alle Bereiche, nicht zuletzt für die Wirtschaft, die jetzt so eine schwere Krise durchlebt. Wir schützen die Banken, wir schützen die Konzerne, aber wir schützen nicht die normalen Leute.


Würden Sie sagen, dass Ihr Ansatz für eine neue islamische Wirtschaftsethik antikapitalistisch ist?

Ramadan: Ich würde zumindest sagen, dass eine solche Ethik eine fundamentale Änderung unseres Verständnisses vom freien Markt beinhalten muss. Man kann nicht für Demokratie sein und zugleich ein ökonomisches System ohne Regeln und Demokratie befürworten. Jetzt haben wir ein System, in dem der Mensch der Wirtschaft dienen muss. Wir brauchen aber ein System, in der die Wirtschaft den Menschen dient.


Antikapitalistisches Denken richtet sich gegen das Privateigentum. Die Verteidigung des Privateigentums ist aber einer der Pfeiler islamischen Rechtsdenkens.

Ramadan: Ja, aber wir müssen einen ethischen Umgang mit dem Eigentum finden: keine Ausbeutung, keine Spekulation. Es gibt im Islam das Zinsverbot. Ich weiß nicht, ob wir auf einen Schlag weltweit das System der Zinsen abschaffen können. Aber wir sollten über eine Strategie nachdenken, mit der wir Schritt für Schritt herauskommen. Wir können auch nicht zulassen, dass transnationale Konzerne wie Coca-Cola oder Nike darüber entscheiden, was Staaten zu tun haben.


Viele Europäer können sich nicht vorstellen, dass die positiven Veränderungen ausgerechnet aus der islamischen Welt kommen sollen.

Ramadan: Mir geht es nicht nur um Veränderungen in den westlichen Ländern, sondern auch in muslimischen Mehrheitsgesellschaften. Wir brauchen dort ganz grundsätzliche Änderungen, wenn es um die Frage der Diktatur geht, und um den Mangel an Freiheit.


Die Literalisten lehnen Ihre Forderung nach Einbeziehung des historischen Kontexts ab, den Liberalen sind Sie zu nah am Koran.

Ramadan: Ja, ich stehe in der Mitte. Der Offenbarungstext gibt mir eine Richtung, die Geschichte gibt mir eine Realität. Ich will aber nicht nur eine Richtung, und ich will nicht nur die Realität. Ich will beides. Ich habe kein Problem damit, von beiden Seiten angegriffen zu werden. Aber ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass die einzige Möglichkeit, liberal zu sein, die westliche Art von Liberalität ist. Das ist falsch. Die beste Möglichkeit, dem Westen zu helfen, ist, kritisch zu sein gegenüber seinem Lebensstil, seiner Art, mit wirtschaftlichen Fragen umzugehen.


Sie sagen, dass staatliche Gesetze von einer religiösen Offenbarung abgeleitet werden sollen, und verneinen das säkulare Prinzip.

Ramadan: Nein, das stimmt nicht. Ich sage, dass wir alle von religiösen Ideen inspiriert sind, in Westeuropa eben vom Christentum.

Aber niemand käme auf die Idee, dass der Katechismus der katholischen Kirche die Grundlage der Gesetze sein soll.

Ramadan: Ich definiere Scharia als Weg zur Gläubigkeit. Es ist meine Inspiration. Ich habe kein Problem mit der Gewaltentrennung. Alles, was der menschliche Geist hervorbringt und nicht im Widerspruch zu Zielen wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde steht, ist meine Scharia. Darum habe ich ein Problem mit jenen, die den Islam nicht als europäische oder westliche Religion integrieren wollen. Ich möchte, dass die Österreicher verstehen, dass der Islam eine österreichische Religion ist.


Aber wir haben große Probleme mit dem politischen Islam.

Ramadan: Wir haben nicht ein Problem mit dem politischen Islam. Wir haben ein Problem mit der politischen Lage in vielen islamischen Mehrheitsgesellschaften. Schauen Sie sich die arabischen Länder an: keine Freiheit, keine Demokratie. Diktatur. Wo es keine Freiheit gibt, kommt es zu einem sehr engen Verständnis des Islam.


Der Islam weist in allen seinen Erscheinungsformen Züge der Gewalt auf. Das wird damit entschuldigt, dass die Muslime Opfer seien.

Ramadan: Ich sage den Muslimen immer, dass sie mit der Opfermentalität aufhören müssen. Wir sind zuallererst selbst für unser Scheitern verantwortlich.


Mehr islamisches Selbstbewusstsein würde eine Verstärkung seiner expansiven Tendenzen bedeuten.

Ramadan: Das genaue Gegenteil ist der Fall. Der schnellste Weg zu extremistischer Gewalt ist das Opferbewusstsein. Schauen Sie sich die einschlägigen Videos an. Da heißt es: Ihr tötet unsere Brüder dort, jetzt töten wir euch hier. Wer Selbstbewusstsein hat, braucht keine Gewalt. Ich sage zu meinen Schülern: Das hier ist euer Land, bringt euch ein, geht zur Wahl, bildet euch. Selbstvertrauen zu haben heißt nicht stolz oder gar arrogant zu sein.

Der Islam ist mit dem Westen so schwer kompatibel, weil er nicht durch das reinigende Bad der Aufklärung gegangen ist.

Ramadan: Ja, man ist im Westen den Weg gegen die Vorstellung einer höchsten Autorität in den Händen der Kirche gegangen, um die Aufklärung zu erreichen. Das ist fein. Aber die Aufklärung kam ja von irgendwo her. Das war das Aufeinandertreffen von Christentum und Islam im Mittelalter. Die Frage ist: Haben die Muslime die Kraft, durch einen Prozess zu gehen, der es ihnen wieder, wie seinerzeit, ermöglicht, die zeitgenössischen Herausforderungen zu bestehen? Gleichzeitig würde ich gern dem Westen sagen: Tut nicht so, als sei die Aufklärung das Ende der Geschichte. Ihr habt im Namen der Rationalität getötet. Der Holocaust kommt nicht aus einem religiösen Bewusstsein.


Sie würden allen Ernstes sagen, dass der Holocaust das Produkt eines Systems ist, das auf der Aufklärung und Rationalität basiert?

Ramadan: Natürlich war das rational. Im Namen der Rationalität kann man Faschist werden und töten. Faschismus ist nicht irrational, sondern sehr rational: richtig oder falsch, mein Land. In diesem System gibt es keinen Gott, nur ein sehr enges System der Rationalität. Die Aufklärung hatte nicht nur gute Konsequenzen. Wir sollten verstehen, dass die wirkliche Essenz der Aufklärung ein selbstkritisches Bewusstsein ist.


Es ist unübersehbar, dass es gerade in den muslimischen Mehrheitsgesellschaften große soziale Probleme gibt.

Ramadan: Für die arabischen Gesellschaften würde ich ihnen zustimmen. Was wir in asiatischen Ländern wie Malaysia sehen, ist aber sehr ermutigend. Für die Probleme in den muslimischen Mehrheitsgesellschaften ist wiederum die Opferrolle die Hauptursache: Wenn wir den Westen für unsere Probleme verantwortlich machen, aber selbst nicht genug für unsere Armen tun, ist das heuchlerisch.



Sie gelten als das nette Gesicht des Fundamentalismus.

Ramadan: Diesen Vorwurf hat man schon in den 30er- und 40er-Jahren gegen die Juden erhoben: „double talk“ – dass sie also nicht wirklich denken, was sie sagen, und nicht wirklich sagen, was sie denken. Jetzt passiert dasselbe mit dem Islam. Für viele Menschen ist das, was ich sage, zu schön, um wahr zu sein. Also müssen sie mir unterstellen, dass ich eigentlich etwas anderes denke. Die Wahrheit ist: Der Westen sagt nichts über Steinigungen in Saudiarabien, solange er von dort sein Öl bekommt. Und die Saudis propagieren islamische Werte, obwohl sie eine Diktatur errichtet haben und ihre Prinzen Alkohol trinken und Sklaven halten. Ich kritisiere beide. Und weil sie darauf nichts entgegnen können, werfen mir beide „double talk“ vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2009)

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