In Österreich wendet sich ein Türken-Vertreter gegen Nazi-Vergleiche und spricht sich gegen die Todesstrafe aus.
Wien/Berlin/Ankara. Nach wochenlangem Streit zwischen der Führung in Ankara und den EU-Ländern Österreich, Deutschland und Niederlande um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker scheint es jetzt leichte Entspannung zu geben: In Wien hat sich erstmals ein Sprecher von ATIB, dem größten religiösen Verband von Türken in Österreich, kritisch zu Aussagen türkischer Politiker geäußert und die Nazi-Vorwürfe als „überzogen und durch nichts zu rechtfertigen“ bezeichnet.
In Köln hat wiederum die „Koordinationsstelle der türkischen Regierungspartei AKP im Ausland“ erklärt, dass es keine weiteren Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsvertreter in Deutschland geben werde. Eine Sprecherin sagte, die Entscheidung sei in Ankara gefallen. „Alle zukünftigen Veranstaltungen, die geplant waren, sind abgesagt“, sagte die Sprecherin. Ministerauftritte seien ohnehin nicht geplant gewesen, aber Informationsveranstaltungen von AKP-Abgeordneten schon. Auch diese fänden nicht statt. Ein Auftritt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sei gar nicht geplant gewesen, hob die Sprecherin jetzt hervor.
Zuvor hatte bereits der Vorsitzende der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), Zafer Sirakaya, in der „Wirtschaftswoche“ weitere Auftritte türkischer Regierungsmitglieder ausgeschlossen. „Wir werden bis zum Referendum keine weiteren Veranstaltungen mit türkischen Regierungsvertretern organisieren“, so UETD-Präsident Zafer Sirakaya. Man werde weiter auf lokaler Ebene Informationsveranstaltungen organisieren. Gastauftritte türkischer Politiker werde es aber nicht mehr geben. Die UETD gilt als AKP-Plattform in Europa. Damit dürften diese Aussagen auch für Österreich gelten.
Ob dies nur eine taktische Ankündigung ist, war vorerst nicht ganz klar, ebenso wie die Gründe für diesen Richtungswechsel. Möglicherweise hat es auch damit zu tun, dass Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland und Österreich rechtlich zunehmend erschwert werden (siehe Seite 1),
In Wien hat der Dachverband türkischer Vereine (ATIB) nicht nur die Nazi-Vorwürfe gegen europäische Politiker kritisiert, sondern sich auch deutlich gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei ausgesprochen. „Nein, das tragen wir auf keinen Fall mit, in der heutigen Zeit die Todesstrafe einzuführen, wäre ein Rückschritt,“ sagte ATIB-Sprecher Selfet Yilmaz in einem Interview mit dem „Neuen Volksblatt“. Er steht damit in direktem Gegensatz zu Staatschef Erdoğan.
Erdoğan deutet Abkehr von der EU an
Die Äußerungen europäischer Türkenvertreter scheinen aber den Staatschef selbst nicht zu berühren. Die EU sei „faschistischund grausam“ und die Lage in Europa erinnere ihn an die Situation vor dem Zweiten Weltkrieg, sagte Erdoğan am Dienstag. Zugleich deutet er eine Abkehr von der EU an. Die Zeit sei vorbei, da sein Land durch den EU-Beitrittsprozess und das Flüchtlingsabkommen unter Druck gesetzt werden könne, so Erdoğan. Aus dem Referendum zur Verfassungsreform am 16. April werde hinsichtlich der Beziehungen zur EU eine völlig neue Türkei hervorgehen.
Erdoğan will damit einem drohenden Abbruch der Beitrittsverhandlungen zuvorkommen. Denn die kritischen Aussgen europäischer Toppolitiker häufen sich. Zuletzt hat sogar EU–Erweiterungskommissar Johannes Hahn erklärt, dass ein EU-Beitritt der Türkei immer „unrealistischer“ werde. Er schloss nicht aus, dass die EU-Staaten bald über einen möglichen Abbruch der Beitrittsverhandlungen beraten könnten. Die Türkei bewege sich „seit Längerem immer weiter weg von der EU“, so Hahn in einem Interview mit der „Bild“. Der autoritäre Kurs des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die geplante Verfassungsänderung in der Türkei hin zu einem Präsidialsystem seien eine Abkehr von Europa. (ag., gb)
AUF EINEN BLICK
Türken in Europa. Der 2004 gegründete Verein UETD (Union Europäisch-Türkischer Demokraten) gilt als verlängerter Arm der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan in Europa. Die UETD hat bisher Wahlkampfauftritte türkischer Politiker organisiert. ATIB ist eine Dachorganisation von 65 Vereinen in ganz Österreich. Der Verein koordiniert für die türkische Republik die Religionsausübung im Ausland. ATIB wurde bis vor kurzem direkt von einem Botschaftsrat geleitet. Nach Vorwürfen, der Verein verfolge Erdogan-Kritiker, wurde der Vorstand kürzlich umgebaut.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2017)