Die Extremisten stehen vor der militärischen Niederlage im Irak und in Syrien. Ein Ende der Konflikte und Attentate in Europa bedeutet das aber noch nicht.
Es ist eine leichte Aufgabe für die Propagandaeinheiten des sogenannten Islamischen Staates (IS). Sie warten einfach, bis ein Attentäter irgendwo in Europa zuschlägt und übernehmen dann die Verantwortung für die Bluttat. Ob der Angreifer tatsächlich vom IS direkt angeleitet worden ist oder ob er sein Verbrechen unabhängig von den Strukturen der Jihadistenorganisation durchgeführt hat, spielt dabei keine Rolle. Die internationale Aufmerksamkeit ist dem IS sicher. Dazu braucht es längst keine großen, logistisch aufwendigen Attentate mehr wie die al-Qaidas in den 2000er-Jahren oder des IS in Paris vor eineinhalb Jahren. Es genügt eine Attacke mit vergleichsweise „einfachen“ Waffen: einem Auto und einem Messer wie nun in London.
Angriffe wie diese sind nur schwer bis gar nicht zu verhindern. Denn für sie bedarf es keiner besonderen „auffälligen“ Vorbereitungen, die die Aufmerksamkeit der Polizei erregen könnten. Und die Attentäter benötigen keine einschlägigen militärischen Kenntnisse, keine Ausbildung in Terrorcamps in Syrien, um ihr brutales Werk zu verrichten.
Die IS-Propagandaeinheiten zählen vor allem auf den psychologischen Effekt solcher Anschläge und hoffen, dass ihre Organisation damit mächtiger erscheint, als sie eigentlich noch ist. Denn strategisch gesehen ergibt sich ein völlig anderes Bild: Das sogenannte Kalifat, das die Extremisten im Sommer 2014 im Irak und in Syrien ausgerufen haben, steht vor dem Zusammenbruch.
Die IS-Kämpfer leisten zwar in den engen Gassen der Altstadt Mossuls nach wie vor heftigen Widerstand. Sie feuern immer wieder Granaten in die befreiten Teile der nordirakischen Metropole ab. Und die Meldung vom Donnerstag, dass mehr als 100 Zivilisten bei einer Detonation gestoben sein sollen, zeigt, wie verlustreich die Rückeroberung Mossuls noch werden könnte.
Trotzdem ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Jihadisten endgültig aus ihrer einstigen Hochburg vertrieben worden sind – aus der Stadt, in der IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi zum ersten Mal als selbst ernannter „Kalif“ zu seinen Anhängern gesprochen hat. Das Ende des IS in Mossul würde auch das vorläufige Ende seiner Vision von einem jihadistischen Staat im Nahen Osten bedeuten. Denn dann bleiben ihm nur noch seine ständig schrumpfenden Territorien in Syrien und seine politische „Hauptstadt“ im syrischen Raqqa. Und auch dort zieht sich die Schlinge um den IS immer mehr zusammen. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten und mit ihnen verbündete arabische Truppen stehen bereits vor Raqqas Toren.
Eine endgültige militärische Niederlage der IS-Kämpfer wird zwar ihr pseudostaatliches Horrorgebilde im Nahen Osten verschwinden lassen. Der Ungeist der Extremistenorganisation wird aber weiterspuken – im Irak und in Syrien ebenso wie in Europa.
Das Monster IS erblickte nicht über Nacht das Licht der Welt. Es wuchs langsam im blutigen Biotop des syrischen Bürgerkrieges heran und nährte sich von den inneren Zerwürfnissen im Irak.
Es bedarf deshalb politischer Lösungen für den Syrien-Konflikt und die internen Machtkämpfe im Irak. Andernfalls werden nach dem Ende des IS nur andere Extremistenorganisationen ihr Haupt erheben.
Ein militärisches Ende des IS in Syrien und im Irak wird auch nicht automatisch ein Ende der Anschläge in Europa bedeuten. Schon immer fischten die Hetzer extremistischer Organisationen im Reservoir frustrierter, vom Weg abgekommener, radikalisierter Männer, um Attentäter zu rekrutieren. In den 2000er-Jahren waren es al-Qaida-nahe Gruppen, und der Brandbeschleuniger war der Krieg im Irak. Jetzt, gute zehn Jahre später, ist der IS – neben al-Qaida – auf den Plan getreten, um junge Männer für den Kampf in Syrien anzuwerben oder zu Anschlägen in ihren europäischen Heimatländern anzustacheln.
Das Problem Radikalisierung ist vor allem ein Problem der europäischen Gesellschaften, das in Europa gelöst werden muss. Erst dann wird man auch das Problem Terror in den Griff bekommen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2017)