Außenminister Kurz kritisiert bei einem Lokalaugenschein in Südeuropa die EU-Politik, Frontex und Helfer, die vor Libyen in Seenot geratene Flüchtlinge retten.
Sie starten ihre Hoffnungsreise auf zwei alten, kleinen Schlauchbooten. Zusammengedrängt, zu Hunderten und ohne Schwimmwesten. Kurz nach der Abfahrt in Libyen am Donnerstag kenterten die Boote, nur wenige Kilometer vor der Küste. 250 Menschen kamen ums Leben, so die Schätzungen. Menschen, die über den tödlichen Meeresweg eigentlich illegal Europa hatten erreichen wollen.
Für die Besatzung des maltesischen Küstenwachenschiff P51 ist dieser brutale Tod im Mittelmeer inzwischen Alltag. Das Schiff steht im Dienste der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Vor allem in der wärmeren Flüchtlingshochsaison ist die Crew, die zum Grenzschutz ausgebildet wurde, oft mehrmals täglich im Rettungseinsatz. Einmal seien auf dem nur 26 Meter langen Schiff von seinen Männern 100 Menschen betreut worden, schildert der Kapitän dem österreichischen Außenminister auf einer „Bootsbesichtigungstour“ im Hafen von Valletta. Kurz reiste Donnerstag und Freitag nach Sizilien und Malta, um sich von der Flüchtlingslage im zentralen Mittelmeer ein Bild zu machen.
Denn vieles deutet auf eine neue Zuspitzung der Flüchtlingskrise in diesem Sommer hin: Mehr als 4500 Menschen sind im vergangenen Jahr auf der Überfahrt nach Europa umgekommen, heuer könnten es noch mehr werden. Seit Jahresbeginn strandeten an Italiens Küsten mehr als 16.000 Personen, 40 Prozent mehr als zum selben Zeitraum im Vorjahr. 2016 war mit mehr als 180.000 Ankünften ein bisheriges Rekordjahr. Geschätzt wird, dass sich in Libyen bis zu einer Million Migranten aufhalten – viele warten auf eine Überfahrt nach Europa.
„Brauchen radikalen Systemwechsel“
Für Kurz gibt es nur einen Ausweg: So wie die Balkanroute muss jetzt auch die Route über das Mittelmeer abgeriegelt werden. Aber dafür „brauchen wir einen radikalen Systemwechsel“, kritisiert er die EU-Einwanderungspolitik – und dabei auch Frontex: „Das Frontex-Mandat muss geändert werden.“ Tatsächlich sind 96 Prozent der Frontex-Einsätze im zentralen Mittelmeer Rettungsaktionen, zudem sieht das Mandat vor, alle Flüchtlinge nach Italien zu bringen.
Für den Minister ist das eine Einladung an Schlepper, Flüchtlinge auf immer instabilere Boote ins Meer zu schicken – wohl wissend, dass diese Menschen Chancen auf Rettung und Überfahrt nach Italien haben: „Die EU betreibt ein Schlepperförderprogramm.“ Noch härter ins Gericht ging Kurz mit einigen Hilfsorganisationen, die nahe Libyens Küste Rettungseinsätze koordinieren: „Wir müssen den NGO-Wahnsinn beenden.“ Es gebe Hinweise, dass sie auch mit Schleppern in Kontakt seien – oder zumindest informiert würden, wenn ein Boot startet. „Viele NGOs machen sich zu Partnern der Schlepper. Das führt zu noch mehr Toten.“
Kurz pocht erneut auf seine Forderung, dass diese Menschen gar nicht aufs Festland gelassen werden dürfen, sondern auf Inseln bleiben müssten wie dem sizilianische Lampedusa. Als langfristige Lösung sieht er Camps in Nordafrika, wohin Flüchtlinge, die illegal nach Europa kommen wollten, gebracht werden sollten. Der Minister denkt an Länder wie Tunesien oder Ägypten. Er ist überzeugt, dass durch entsprechende Angebote von Seiten der EU diese Staaten zur Kooperation überzeugt werden können. Camps in Libyen, wie sie unter anderem Italien fordert, steht er aufgrund der instabilen Lage im Bürgerkriegsland skeptisch gegenüber.
Ausweitung des Frontex-Mandates
Kurz meint, Schlepperboote müssten gestoppt werden, bevor sie auf hoher See sind. Noch wartet die EU aber auf grünes Licht aus Tripolis, um in Libyens Gewässern aktiv sein zu können. Bei einem Treffen mit EU-Politikern in Rom diese Woche forderte Libyens Premier Fayez Serraj 400 Millionen für technische Ausrüstung für den Einsatz gegen Schlepper. Die Crux daran: Serrajs Regierung kontrolliert nur einen Teil Libyens.
Für Italien drängt die Zeit: Da die freiwillige Aufteilung von Flüchtlingen auf EU-Länder nicht funktioniert, könnten bald Hunderttausende feststecken – und auf illegalem Weg versuchen, nach Norden weiterzureisen. Rom pocht wiederholt auf stärkere europäische Solidarität bei der Umverteilung von Asylwerbern auf EU-Länder, doch Kurz lehnte gestern weiterhin Österreichs Teilnahme am europäischen Relocation-Programm ab. Österreich sollte bis Ende 2017 1953 Menschen aus Griechenland und Italien aufnehmen – bisher wurde kein einziger Migrant aus den beiden Ländern übernommen. Bundeskanzler Christian Kern hatte zuvor zugesagt, dass Wien bereit sei, sich am Relocation-Programm zu beteiligen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2017)