Warum hat Osteuropa der liberalen Demokratie den Rücken gekehrt? Sind die Osteuropäer verrückt, sind sie verbohrt, oder wissen sie etwas über den Liberalismus, was die Westeuropäer nicht wissen?
Die jüngsten Entwicklungen in Osteuropa haben die Westeuropäer nicht nur dazu gezwungen, ihre grundlegende Theorie über die moderne Welt zu überdenken. Die Westeuropäer wurden auch mit einem Paradoxon konfrontiert. Laut Umfragen zählen die Osteuropäer zu den europafreundlichsten Wählern. Bei den jüngsten Wahlen aber gaben viele ihre Stimme EU-feindlichen Parteien, die Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken und die Medien offen ablehnen. Es ist offensichtlich, dass für viele Osteuropäer Solidarität eine Einbahnstraße ist.
Politische Kommentatoren sind erstaunt, warum – trotz eines generellen tiefen Misstrauens gegenüber Politikern und trotz der jüngsten Geschichte der undemokratischen Herrschaft – die Menschen bereit sind, Parteien zu wählen, die nur darauf warten, der Regierung mehr Macht zu verleihen. Wie soll man die Tatsache verstehen, dass die Osteuropäer – die größten Gewinner der Revolution von 1989 – als die Anführer der antiliberalen Konterrevolution endeten? Die Entscheidungen der populistischen Regierungen in Ungarn und in Polen, die Kontrolle über die jeweiligen Verfassungsgerichtshöfe zu übernehmen, die Unabhängigkeit der Zentralbanken zu beschneiden und den freien Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen den Krieg zu erklären, sollte alarmierend für alle sein, die Politikern misstrauen. Für eine Gesellschaft, die vor nur drei Jahrzehnten die Auswirkungen uneingeschränkter Macht erfahren musste, sollte das inakzeptabel sein. Aber die Mehrheit der Ungarn und Polen beunruhigt es nicht, dass die jeweiligen Regierungschefs mehr Macht bekommen haben. Wie hat die Gewaltentrennung ihre Anziehungskraft verloren? Ist es möglich, dass in den Augen der Öffentlichkeit die Gewaltentrennung nicht dafür geeignet ist, Amtsinhaber zur Verantwortung zu ziehen, sondern als Trick der Eliten gesehen wird? Die illiberale Wende in Osteuropa zwingt uns dazu, vieles zu überdenken, was wir gestern noch als selbstverständlich gesehen haben.