Wandergeschichten

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Ich habe mit Pilgergeschichten letzten Sommer abgeschlossen.

Der Schulfreund einer Bekannten meiner alten Studienkollegin aus einem Kaff in Niederösterreich hat meiner alten Schulkollegin erzählt, dass dieser Schulfreund zweiten Grades bei seinem Kurzurlaub in Hamburg (oder war's Berlin?) in einer Straßenbahn (Bus?) Zeuge einer grauslichen Tat wurde: Während einer samstagnächtlichen Fahrt hat ein lärmender Passant in das Vehikel gemacht. Bevor wir uns jetzt aber kollektiv grausen, habe ich eine Frage: Wie ernst kann man eigentlich Erzählungen nehmen, die über eine deutsche Großstadt nach Niederösterreich und schließlich über Umwege nach Wien gelangen? Anders gefragt: Warum passieren die ärgsten und wildesten Dinge immer der Nachbarin des Großvaters von der geschiedenen Frau des ehemaligen, mittlerweile im australischen Outback lebenden Arbeitskollegen?

Ich habe mit diesen Pilgergeschichten letzten Sommer abgeschlossen. Letzten Sommer hat mir eine eigentlich sehr freundliche Waliserin erzählt, dass einem Patienten ihrer Allgemeinärztin bei einer mehrtägigen Trekkingtour durch den Dschungel nördlich von Chiang Mai in Thailand Folgendes passiert ist: Der Wanderer hat sich auf dem Holzbalkon einer nicht sehr stabil gebauten Hütte angesoffen, ist anschließend in dem Mehrbettraum eingeschlafen, und als er am nächsten Morgen aufgewacht ist, befand sich sein linker Arm bis zur Schulter in einer Python, sprich: die Python hat nachts den Arm gefressen. Dieser Mann konnte irgendwie gerettet werden, ging die Geschichte weiter, aber mehrere seiner Finger hatte die Python schon verdaut.

„Ja genau, pfff!“, sagst du in dich hinein, während du der Waliserin zuhörst. Ungünstigerweise befindest du dich aber gerade auf einer mehrtätigen Trekkingtour durch den Dschungel nördlich von Chiang Mai in Thailand und sitzt auf dem Holzbalkon einer nicht sehr stabil gebauten Hütte mit Rissen an den Wänden, die jede Python als Einladung zum Handessen einer österreichischen Türkin verstehen muss.
Die Waliserin hat die ganze Nacht auch nicht geschlafen, ihrer eigenen Geschichte sei Dank.

E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2017)

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