Premierministerin Theresa May ist sich der Tatsache bewusst, dass Brüssel bei den Verhandlungen über den britischen EU-Austritt am längeren Hebel sitzt.
Wien. „Your Money Or Your Lives“ – euer Geld oder eure Leben. So lautete die Schlagzeile der Boulevardzeitung „The Sun“ am Tag eins nach der Einreichung des britischen EU-Austrittsgesuchs durch Theresa May. Das Blatt spielte damit auf die Andeutung der britischen Premierministerin, die Union könnte die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen aufs Spiel setzen, sollte sie sich in den Verhandlungen über die Modalitäten des Brexit allzu unnachgiebig zeigen, an. Oder, wie es die „Sun“ gestern formulierte: „Macht Geschäfte mit uns, und wir helfen euch im Gegenzug bei der Terrorbekämpfung.“
Das Scheitern der Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU würde die Zusammenarbeit im Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus schwächen, heißt es in der sechsseitigen Erklärung der britischen Regierung – beide Seiten müssten folglich „hart arbeiten, um dies zu verhindern“.
Zwar wollten weder May noch ihre Regierungsmitglieder die Verknüpfung von Handel und Sicherheit als explizite Drohung verstanden wissen, doch der Passus verdeutlicht, dass die britische Regierung nach Trümpfen sucht, die sie im Verhandlungspoker mit Brüssel ausspielen könnte. Als eine der zwei wichtigsten europäischen Militärmächte mit Sitz im UN-Sicherheitsrat und einem leistungsfähigen Geheimdienst liegt der Aspekt Sicherheit ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass rund drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien leben. Auch das Geld dürfte eine Rolle spielen. May deutete bereits an, dass Großbritannien bereit sei, für den Marktzugang eine Gebühr zu entrichten.
Die wohl wichtigste Forderung sind gleichzeitige Verhandlungen über die Modalitäten des Austritts und die Ausgestaltung der künftigen Handelsbeziehungen mit Europa. Doch genau hier will die EU nicht mitspielen. Wie es sowohl die EU-Kommission als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sehen, muss zuerst geklärt werden, wie London und die EU ihren gemeinsamen Haushalt trennen wollen, erst danach kann über die künftige Beziehung gesprochen werden. Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU-Kommission, legt seinen Zeitplan für die maximal 18-monatigen Verhandlungen entsprechend an: In der ersten Periode (zweites Halbjahr 2017) will der Franzose ausschließlich über die Modalitäten des EU-Austritts sprechen, im zweiten Verhandlungssemester über die künftige Beziehung, und in den verbliebenen Monaten über ein etwaiges Übergangsregime.
Bescheidenes Drohpotenzial
Die Tatsache, dass die Verhandlungszeit knapp bemessen ist, ist der wohl wichtigste Trumpf der EU: Je länger der Countdown zum Brexit läuft, desto mehr kommen die Briten unter Druck. Denn ein harter EU-Austritt würde der britischen Wirtschaft größeren Schaden zufügen als Kontinentaleuropa. Das Ausspielen von Mitgliedstaaten gegeneinander in der Hoffnung auf ein Aufbrechen der bis dato einheitlichen EU-Front ist für London keine Erfolg versprechende Strategie: Einem Brexit-Deal müssen im Rat mindestens 20 von 27 Mitgliedern mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen – eine hohe Hürde angesichts der Tatsache, dass man in Brüssel und den EU-Hauptstädten über das bescheidene britische Drohpotenzial Bescheid weiß. Das gilt auch für den Sicherheitsbereich, denn der Löwenanteil der Kooperation erfolgt nicht im Rahmen der EU, sondern über die Nato und gesonderte Abkommen (etwa im geheimdienstlichen Club de Berne).
Die europäische Dimension der Zusammenarbeit betrifft unter anderem den Europäischen Haftbefehl und das Schengen-Informationssystem SIS. Aufgrund seiner Opt-outs war Großbritannien hier ohnehin nicht zur Kooperation verpflichtet – doch es machte freiwillig mit. Und zwar aus Eigeninteresse.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2017)