Turin

Barock, Bicerin und Barolo

Fiat sorgte über Jahrzehnte für den Wohlstand von Turin, hier das alte Fabriksgebäude in Lingotto.
Fiat sorgte über Jahrzehnte für den Wohlstand von Turin, hier das alte Fabriksgebäude in Lingotto. MARCO BERTORELLO
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Turin liegt nicht auf dem Weg. In die Kapitale des Piemont muss man fahren wollen. Und dort dann wie Friedrich Nietzsche zu Fuß gehen: in berühmte Museen und traditionsreiche Lokale.

Es ist Sonntagvormittag. Die Rollläden der meisten Geschäfte in den Galerien sind geschlossen. Nur vor dem altehrwürdigen Caffè Baratti & Milano herrscht eine ungewöhnliche Konfusion. Verdutzt bahnen sich die Gäste durch Scheinwerfer und Fotoutensilien den Weg zur Theke. Der verführerische Duft von Kaffee und heißer Schokolade dringt bis nach draußen. Dann betritt plötzlich ein Model mit tizianrotem Pferdeschwanz und weißem Pudel an der Leine das Szenarium. „Un servizio fotografico, ein Fotoshooting für eine Markenfirma“, erklärt ein Ober gelassen einer alten Dame. Für ihn offensichtlich nichts Neues. In keiner anderen italienischen Stadt gibt es so viele historische Kaffeehäuser wie in der Kapitale des Piemont. Als Anfang 1800 der Klerus in Rom die schwarze Bohne noch als Werk des Teufels verdammte, soll es in der Stadt am Po bereits an die 90 Cafés gegeben haben, in denen nicht nur uneingeschränkt der Kaffeegeist geherrscht hatte, sondern auch eine national-liberale Aufbruchstimmung. Zur Zeit des Risorgimento, der politischen Einigung Italiens, wurde das 1822 gegründete Intellektuellencafé San Carlo, das als erstes Lokal in Italien die Gasbeleuchtung eingeführt hat, deshalb mehrmals geschlossen. Man witterte politische Aufruhr von unerwünschtem Ausmaß. Zu den illustren Gästen gehörte damals auch Alexandre Dumas, der hier seinen ersten Bicerin probierte und begeistert an einen Freund schrieb: „Unter den angenehmen Dingen, die ich in Turin erlebt habe, werde ich nie den Bicerin vergessen, ein exzellentes Getränk aus Kaffee, Milch und Schokolade, das es in vielen Cafés zu einem relativ niedrigen Preis gibt.“

Arkade um Arkade

Das dickflüssige, dunkelbraune Getränk mit Schlagobershaube, grundsätzlich im Glas serviert, ist heute nicht mehr preisgünstig, aber für jeden Besucher noch immer ein Muss – für Turiner oft ein Grund, vor oder nach einer Shoppingtour auf eine Plauderei einzukehren. Wobei Café und Café durchaus nicht dasselbe ist. Ausschlaggebend sind neben dem Flair die jeweiligen Spezialitäten. Wer unter den berühmten Namen wo und wann des Öfteren eingekehrt ist, erfährt der Gast spätestens bei einem Blick in die kostspielig aufgemachten Broschüren der Kaffeehäuser, in denen die eigene glorreiche Lokalgeschichte samt Anekdoten aufgezeigt wird. In den heiligen Hallen des Del Cambio, Turins bekanntem Gourmet-Restaurant, ist der Tisch, an dem einst der berühmte Staatsmann Graf von Cavour gespeist hat, bedeutungsvoll mit einem Messingschild gekennzeichnet. Heute laden hier unter den schweren Kristalllustern Manager und Bankdirektoren wichtige Geschäftspartner zu Risotto mit weißen Trüffeln und edlen heimischen Rebsorten, wie Barolo, Barbera oder Nebbiolo ein.

Turin drängt sich dem Fremden nicht mit eklatanten Reizen auf. Dabei hat die heute 920.000 Einwohner zählende, von den Römern angelegte und von den Savoyern zur Barockstadt ausgebaute Metropole entschieden mehr zu bieten als Autofabriken, den Fußballklub Juventus und gesichtslose Wohnsilos, wie oft und gern behauptet wird. Das Bild der vom Po geteilten Stadt bestimmen großzügig angelegte Plätze, breite Straßen und Paläste, die eher an Paris und London als an Florenz oder Rom erinnern. Dazu kilometerlange Arkadengänge, unter denen man auch bei Regen ohne Schirm stundenlang spazieren gehen und in den Schaufenstern alle Luxuslabel dieser Welt bestaunen kann. Vier Jahre, von 1862 bis 1865, war Turin – als Wegbereiter der Einigung Italiens – die stolze Hauptstadt des Königreichs Italien. 1899 gründete die Familie Agnelli die Fiat-Werke und schenkte der Stadt ein Jahrhundert lang Arbeit und beachtlichen Wohlstand. Tausende von Süditalienern emigrierten damals in den Piemont. Auch Biagio ist kein waschechter Turiner, doch darauf kommt es für ihn nicht an. Der Sohn einer immigrierten kalabresischen Familie in der dritten Generation hat der familiären Berufstradition abgesagt und widmet sich mit Haut und Haar seinem Traumjob als geschulter Barkeeper. Stolz zeigt er die Getränkekarte mit selbst kreierten Cocktailrezepten. Biagio träumt davon, eines Tages eine eigene stilvolle Bar aufzumachen. Am liebsten natürlich in den Murazzi, den ehemaligen Lagerräumen entlang der Kaimauern am Westufer des Po, wo sich heute das Nightlife mit Clubs und trendigen Lokalen abspielt. „Getränke mixen und dem Zeitgeschmack anpassen,“ meint er, „fühlt sich hier anders an als in jeder anderen italienischen Stadt.“

Famose Dreiecke

In Turin haben nicht nur Cocktails und Aperitifs Tradition. 1786 mixte angeblich Benedetto Antonio Carpano zum ersten Mal trockenen Weißwein mit aromatischen Kräutern und hob damit den Wermut aus der Taufe. Die Idee machte Schule. Bald ersannen die Cinzano-Brüder und später Martini neue Mixturen, die in alle Welt exportiert wurden. 1925 führte das Caffè Mulassano, als damals absolute Neuheit, die Tramezzini, dreieckige, unterschiedlich gefüllte Weißbrotscheiben, ein. Sie wurden im Handumdrehen zum Erfolgsschlager. So entwickelte sich eine Art Cocktail-Life – ein Ritual, das noch immer ausgiebig praktiziert wird. „Turin hat schon immer anders getickt“, umreißt Claudia kurz ihre Heimatstadt. Sechs Stunden täglich begleitet sie Touristen in einem gläsernen Fahrstuhl zur Aussichtsterrasse der 167 Meter hohen Mole Antonelliana, dem Wahrzeichen Turins – mit fantastischem Blick über die Dächer der Metropole. „Ursprünglich,“ erklärt sie professionell, „war der Turm als Synagoge und Oratorium gedacht. Als die israelische Gemeinde den Bauauftrag 1866 annullierte, richtete die Stadt hier ein paar Jahrzehnte später ein Filmmuseum ein.“ Heute beherbergt das Museo Nazionale del Cinema neben Filmkameras und Kulissen aus der Pionierzeit rund 12.000 Filme, 300.000 Plakate und 80.000 fotografische Dokumente aller Art. In der Aula del Tempio kann sich der Besucher Streifen, die Geschichte gemacht haben, in bequemen Liegestühlen ansehen.

Eis für den Philosophen

Nur ein paar Querstraßen weiter wartet das Museo Egizio, das Ägyptische Museum, mit dem Reich der Pharaonen auf. Das weltweit älteste und nach Kairo wichtigste Museum ägyptischer Altertümer hat über 30.000 Ausstellungsstücke zu bieten – mit der berühmten Statue Ramses II. aus schwarzem Dioritgestein als Prunkstück. Gleich um die Ecke hat Friedrich Nietzsche 1888 während seines zehnmonatigen Aufenthalts in einem ruhmreichen Palazzo mit Blick auf die Piazza Carignano Unterkunft gefunden. Der Philosoph lobte die Stadt, die ihm „ein Paradies für die Füße“ war, in höchsten Tönen und notierte: „Ein wahrer Glücksfall, dies Turin. Was für ernste und feierliche Plätze, die schönsten Cafés, die ich je sah.“ Nietzsche war Stammgast im Caffè Fiorio, schon damals für sein ungewöhnlich gutes Eis bekannt – bis er 1889 einen psychischen Zusammenbruch erlitt und Italien für immer den Rücken kehrte.

Buchtipp

Fiat, die olympischen Winterspiele und das reiche moderne Erbe eines Pier Luigi Nervi oder Carlo Mollino haben in den letzten hundert Jahren Turin ebenso stark geprägt wie der Barock. Der Architectural Guide führt sehr versiert zu unzähligen guten Baubeispielen neueren Datums.

„Architectural Guide. Turin“ v. C. Chiorino, G. Fassino, L. Milan, M. Rosso. 38 €, dom-publishers.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 1.4.2017)

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