Wie kann es sein, dass der Aufschwung überall ankommt, nur nicht bei uns? Vielleicht liegt es daran, dass wir Chancen sehr oft als Bedrohung sehen.
Die amerikanische Soziologin Arlie Russel Hochschild prägte den Begriff „Care Chain“, lang bevor wir bei uns über Arbeitsmigration aus Osteuropa debattiert haben. Diese Betreuungskette beschreibt eine Umverteilung an Arbeit über staatliche Grenzen hinweg. Frauen aus Ungarn zum Beispiel pflegen hier bei uns betagte Österreicher und lassen gleichzeitig ihre Angehörigen in Ungarn von Ukrainerinnen betreuen. Diese Kette ist also das Geschmeide der Globalisierung. Sie stört uns, wenn es um „unsere“ gefährdeten Arbeitsplätze in Österreich geht oder um „unsere“ Sozialleistungen, die „unseren“ Leuten vorbehalten sein sollten.
Gleichzeitig sind wir eine Exportnation. Jeder zweite Arbeitsplatz hängt also davon ab, ob österreichische Waren und Dienstleistungen im Ausland einen Käufer finden. Nicht nur in Deutschland. Fast 20 Prozent aller Exporte fließen nach Südost- und Osteuropa. Und während das Geschäft mit westeuropäischen Ländern nur noch marginal wächst, sind in den jungen Märkten noch hohe Steigerungen möglich. Sofern sich diese Märkte erholen. Die Vorzeichen stehen gut. Und eines ist klar: Viele österreichische Unternehmen verdienen jetzt schon sehr gut im Osten. Manches Unternehmen sammelte Erfahrung – mitunter mehr, als es verkraften konnte –, der Untergang der Baumax-Gruppe ist ein mahnendes Beispiel dafür.
Mittlerweile, so meinen Wirtschaftsforscher und so berichten österreichische Manager, ist Osteuropa reif für eine zweite Chance. Eine zweite Chance wohlgemerkt für beide Seiten. Die aktuellen Konjunkturdaten sind vielversprechend. Tschechien hat die niedrigste Arbeitslosigkeit in der EU, in Ungarn brummt die Wirtschaft derart, dass Mercedes ein Problem hat, 2000 Facharbeiter für ein Werk in der Nähe von Budapest zu rekrutieren. Und Polen ist längst selbst zur Exportnation aufgestiegen. Nein, es handelt sich dabei nicht um westliche Produkte, die dort billig hergestellt wurden. Es sind polnische Markenartikel, die auf den internationalen Märkten reüssieren.
Wer in Europa gute Softwareentwickler braucht, sucht sie in Rumänien. Warum? Weil der rumänische Staat IT-Firmen fördert. Sie zahlen kaum Einkommensteuer – schaffen aber Arbeitsplätze. Diese Länder haben begriffen: Die Währung der Zukunft heißt Beschäftigung. Der Staat ist nicht dazu da, Geld zu verteilen, sondern Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen aus eigener Kraft eine Zukunft aufbauen können. Freilich sind die Sozialleistungen aus anderen Ländern für die eigenen Bürger durchaus erwünscht. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Fest steht: Tschechien und Ungarn haben heute eine geringere Arbeitslosigkeit als Österreich. Natürlich liegt der Grund dafür nicht nur in den Ländern selbst. Millionen haben ihre Heimat verlassen, um im Westen ein neues Leben zu beginnen. Dort, wo die Löhne höher sind und der Sozialstaat üppig ausgestattet ist. In Österreich arbeiten 250.000 Menschen aus Osteuropa. Weitere 130.000 sind in ihren Ländern angestellt, werden aber zu uns entsendet. Für sie bietet sich hier die Chance auf einen sozialen Aufstieg. Das sorgt bei einigen Österreichern für Missmut. Denn diese Aufstiegschance vermissen immer mehr Österreicher in Österreich.
Die Antwort der Politik lautet: Keine Sozialleistungen für Ausländer. Das beruhigt die erhitzten Gemüter, ändert aber nichts an der Misere im eigenen Land. Mitunter bekommt man den Eindruck, als ginge es uns schlechter als den Rumänen, die durchschnittlich 640 Euro brutto im Monat verdienen. Wie die Vereinten Nationen im jüngst veröffentlichten „World Happiness Report“ Österreich auf den 13. Platz reihen konnten, scheint ohnehin rätselhaft. Wer, bitte sehr, hat bei uns Grund, happy zu sein? Liegt doch alles im Argen, nicht wahr? Oder stimmt der Satz des US-Ökonomen Frank Knight vielleicht doch, der meinte: „Es liegt in der Natur des Menschen, umso unzufriedener zu sein, je besser es ihm geht.“ Happy sein fängt damit an, Chancen nicht als Bedrohung zu sehen. Das wäre zumindest ein erster Schritt zurück auf die Überholspur.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.04.2017)