Die Diagonale feierte heuer ihr zwanzigjähriges Bestehen. Das Programm war vielfältig, spiegelte aber auch das Schubladendenken der Branche wider. Wagemut zeigten die Siegerfilme - nun harren sie angemessener Auswertung.
Keine Angst! Mit diesem Aufruf der beiden Diagonale-Intendanten, Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger, eröffnete das Festival des österreichischen Films vergangenen Dienstag seine zwanzigste Ausgabe. Das Hansi-Lang-Zitat verwies auf den Pop-Schwerpunkt der heurigen Veranstaltung und mahnte zugleich dazu, gesellschaftspolitische Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Auch beim „Diagonale Film Meeting“ fand es Widerhall: Das Diskussionsforum widmete sich Zukunftsfragen des österreichischen Kinos, und viele der geladenen Branchenvertreter forderten angesichts der ewigen Krisenstimmung am heimischen Filmmarkt mehr Mut.
Doch was wäre eigentlich mutig? Deutlichere Förderzielvorgaben? Weniger Filme? Stärkere Publikumsorientierung? Klarere Handschriften? Der sprichwörtliche „gute Film“ hat hierzulande viele, womöglich zu viele Gesichter: Alle wünschen sich Arbeiten mit künstlerischem Anspruch und populärem Appeal, aber jede Interessengruppe stellt sich etwas anderes darunter vor, und die Klüfte scheinen nahezu unüberbrückbar. Das Problem ist nicht nur die binäre Opposition von Kunst und Kommerz, sondern auch der Umstand, dass die Kunst des einen oft der Kommerz des anderen ist und vice versa. Im Zuge des Eröffnungspanels erntete die Regisseurin Veronika Franz mit ihrem Impulsreferat viel Applaus: Sie brach eine Lanze für Filme mit Haltung und erinnerte daran, dass Filmemacher wie Haneke und Seidl trotz „schwieriger“ Formen und Inhalte lange gehegt und gepflegt wurden, bevor sie sich zu internationalen Leinwandbannerträgern Österreichs entwickelten. Heute fehle derartige Risikobereitschaft oft.
Zerklüftung in Gattungen
Nach einem Streifzug durch die aktuelle Diagonale könnte man meinen: Alles halb so schlimm. Die Vielfalt ist wie immer groß, die Vorstellungen sind gut besucht, und natürlich finden sich auch radikalere Kinoentwürfe. Allerdings spiegelt das Programm die angesprochene Zerklüftung wider: Meist kann man hier schon nach wenigen Sichtungsminuten (oder gar nach kurzer Kataloglektüre) konstatieren, welcher Gattung ein Film angehört und welches Auswertungsschicksal ihm beschieden ist. Da gibt es die TV-tauglichen Tagesthemendokus unterschiedlichen Brisanzgrades („Free Lunch Society“, „Die dritte Option“, „Hypotopia“), das sozialkritische Spielfilm-Kabarett („Die Migrantigen“), nebenher naturalistischen Arthaus-Ernst („Die Einsiedler“) und hübsch eingehegt auch „Innovatives Kino“ – also Avantgarde und Experiment für die, die's interessiert. Jedem Tierchen sein Pläsierchen.
Schwer haben es jene Arbeiten, die sich zwischen die Stühle setzen, bei denen vielleicht noch nicht ganz klar ist, an wen sie sich richten. Werke jüngerer Filmemacher, die noch auf der Suche nach einer originären Vision sind und gerade jetzt der Förderung bedürften. Etwa Juri Rechinsky: Seinem Spielfilmdebüt „Ugly“ (mit Maria Hofstätter), formal angesiedelt zwischen Seidl-Authentizität und Terrence-Malick-Sensibilismus, mangelt es ein bisschen an Kontur – doch innerlich glüht es vor Schmerz und Sehnsucht. Fraglos würde der Film nicht jedem gefallen. Aber das gilt bekanntlich für einen Großteil spannender Kunst. Auch „Siebzehn“ von Monja Art hat seine Macken: Die sonnengeküsste Coming-of-Age-Geschichte über geschlechtsneutrale Beziehungskisten in einem niederösterreichischen Internat scheitert letztlich beim Versuch, Improvisationsrealismus und „La Boum“-Teeniefilmfreuden zu verkoppeln. Aber sie steckt nichtsdestotrotz voller frischer Gesichter und berührender Momente.
Keine klassischen Publikumsmagneten
Selbst die Preisträger der Hauptwettbewerbe, die Samstagabend bekannt wurden, sind kein Totalkonsensmaterial: „Die Liebhaberin“ von Lukas Valenta Rinner handelt von einem Dienstmädchen, das in einer Gated Community in Buenos Aires arbeitet. Als sie nebenan eine freigeistige Nudistenkolonie entdeckt, regen sich rebellische Gefühle in ihr. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass nur wenig am ambitionierten Zweitling des in Argentinien lebenden Exil-Salzburgers Rinner „österreichisch“ ist: Das Budget kommt teils aus Südamerika und Südkorea, formal erinnert er an jüngeren Kinosurrealismus aus Griechenland, inhaltlich an Polit-Parabeln von Lucrecia Martel.
Der Dokumentarfilmpreis ging an „Was uns bindet“ von Yvette Löcker: eine einfühlsame Annäherung an ihre im Lungau lebenden Eltern, die trotz Trennung noch im selben Haus wohnen. Gleichermaßen melancholisch wie humorvoll erzählt das Porträt vom Gefälle zwischen Generationen, Stadt und Land. Weder Rinners noch Löckers Film sind klassische Publikumsmagneten. Aber mit angemessener Vermarktung würden sie ihre Zuschauer finden – es muss sich nur wer trauen, sie auf Leinwände und Bildschirme zu bringen. Nur keine Angst!
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2017)