Gastkommentar

. . . und wer braucht heute noch Kesselflicker?

Zum Internationalen Roma-Tag am 8. April: In etlichen Ländern Europas leben Angehörige dieses Volkes nach wie vor unter katastrophalen Bedingungen. Viele haben sich nicht an die heutigen Lebensumstände anpassen können.

Am 8. April jedes Jahres wird am Roma-Tag jener Opfer gedacht, die im Zweiten Weltkrieg im sogenannten Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden oder die verhungert sind. Niemand weiß, wie viele es genau waren. Die Schätzungen schwanken zwischen 250.000 und 500.000. Das führt mich zur Frage, was wir von diesem rätselhaften Volk überhaupt wissen.

Woher kommen die Rom-Völker, wie man sie nennt? Wie viele leben heute in Europa, und was bedeutet das Wort Roma in ihrer eigenen Sprache, Romanes? Bis vor drei Jahren wusste ich zwar, dass die Roma und Sinti ursprünglich aus Indien stammen, und ich habe die Zahl dieser größten europäischen Minderheit auf zwei bis drei Millionen geschätzt. Tatsächlich sind es bis zu zwölf Millionen.

„Ich bin ein Zigan“

Den Begriff Roma hatte ich zunächst mit Rumänien in Verbindung gebracht. Er bedeutet aber in ihrer Sprache Männer. Rom ist der Mann und Romni die Frau.

Vor drei Jahren erhielt ich den Auftrag, die Aktivitäten des Malteserordens zur Integration dieser nach wie vor ausgegrenzten Menschen zu verbessern. Die meisten Roma leben in unwürdigen Behausungen, oft ohne Strom und Fließwasser. In vielen Teilen Mittelosteuropas nennen sie sich nach wie vor Zigeuner, und ein Bürgermeister in Südungarn ermahnte mich streng: „Sagen Sie ja nicht Rom zu mir. Ich bin ein Zigan.“ So nennen sie sich auch in anderen Teilen Europas: Zingari in Italien, Gitanos in Spanien oder Gitannes in Frankreich.

Aber beim ersten internationalen Weltkongress 1971 in London wurde Roma als einheitlicher Name für alle Rom-Völker definiert sowie eine Fahne und eine Hymne kreiert. Seither ist es nicht mehr korrekt, Zigeuner zu sagen.

Ich halte mich aber an die Nobelpreisträgerin von 2009, Herta Müller, die nach einer Rumänien-Reise (sie stammt aus dem Banat) erklärte, dass wir der Würde jedes Menschen am besten gerecht werden, wenn wir Gadsche, wie sie uns Nichtroma nennen, sie so ansprechen, wie er/sie angesprochen werden will. Einem Österreicher oder Deutschen dieses Volkes wird man daher immer Rom oder Romni sagen, einem Ungarn oder Rumänen in Siebenbürgen „Zigeuner“.

Apropos Namen: Das englische Wort Gypsy wird gerne fälschlicherweise mit Ägypten in Verbindung gebracht. Tatsächlich haben sich Teile dieses Volks auf ihrer Wanderung von Indien über Kleinasien nach Europa längere Zeit am Peloponnes, am Fuß des Berges Gype aufgehalten. Diese Gegend heißt Klein-Ägypten. Schon in einer Chronik von 1427 heißt es, dass sie auf die Frage, woher sie kämen, wahrheitsgemäß geantwortet haben, „aus Klein-Ägypten“. Nur wusste damals wie heute niemand, dass dieser Landstrich in Griechenland liegt.

Keine homogene Gruppe

Da die Rom-Völker alles andere als eine homogene Gruppe sind, ist es auch verständlich, dass es viele verschiedene Stammesnamen gibt. So heißt die größte Gruppe in Frankreich Manuches, was einfach Menschen bedeutet; in Ungarn Lovara, weil Lo das ungarische Wort für Pferd ist und dieses Volk vor allem vom Pferdehandel lebte. In Rumänien heißt die größte Gruppe Kalderasch, was von cada = Kessel abgeleitet wird. Dieses Volk war und ist noch heute bekannt für Kesselflicken und andere Metallarbeiten.

Beim Wort Zigeuner gibt es verschiedene Deutungen. Eine davon besagt, dass es in Kleinasien einen Stamm ähnlichen Namens gab und die Bedeutung „Fremder“ war. Und Fremde waren sie mit ihrer Lebensweise als Nomaden, ihren Gebräuchen und ihrer dunklen Hautfarbe schon immer. Daher sagt man bis heute in Spanien oft Cale, oder in Wales Kaale, was schwarz bedeutet.

Heute leben nur noch etwa fünf Prozent als fahrendes Volk, weil es die Voraussetzungen dafür nicht mehr gibt: Wir leben nicht mehr in einer Wiederverwertungs-, sondern in einer Wegwerfgesellschaft. Niemand ist mehr am Kesselflicken, Besenbinden oder Messerschleifen interessiert.

Apathisch und ausgegrenzt

Jene, die noch heute mit ihren Wohnwagen und großen Autos durch die Lande ziehen, sind eine verschwindende Minderheit. Die meisten leben apathisch und ausgegrenzt in den schon erwähnten Siedlungen. Der Analphabetismus ist extrem verbreitet. Seit ich solche Siedlungen gesehen habe, weiß ich, dass es noch eine Stufe unterhalb der Armut gibt: himmelschreiendes Elend.

Meine Aufgabe ist es, diesen Menschen aus ihrem Elend herauszuhelfen, ihr Selbstvertrauen zu stärken und ihnen beizustehen, eine menschenwürdige Zukunft in unserer Gesellschaft aufzubauen. Sie werden jetzt fragen: Geht das, und wollen sie das überhaupt? Die leben doch schon seit 600 Jahren bei uns, und nichts hat sich geändert! Dazu muss man einen Blick in die jüngere Geschichte werfen: Nach mehreren Versuchen wurde 1856 in der Walachei und in der Moldau die Leibeigenschaft abgeschafft. Mit der neu gewonnenen Freiheit konnten viele nicht umgehen, und ohne Eigeninitiative, Bildung oder Zukunftsorientierung führte das oft zur Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen.

Eine weitere Zäsur brachte der Zusammenbruch des Kommunismus 1989/1990: Der zynische Begriff Arbeiterparadies führte zwar dazu, dass auch Roma gezwungen wurden, in Fabriken als ungelernte Arbeitskräfte einen niederen Lohn zu verdienen, aber nach der Wende waren genau diese Menschen die Ersten, die ihren Job verloren.

Anhaltende Emigrationswelle

Schließlich brachte der EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens, wo der Anteil der Roma an der Gesamtbevölkerung circa zehn Prozent beträgt, die letzte große Auswanderungswelle, die bis heute anhält. Viele nutzen das Recht auf Freizügigkeit und suchen Jobs in den reicheren Ländern Westeuropas. Aber ohne Bildung führt das rasch in die Arbeitslosigkeit, und viele fristen ihr Dasein als Bettler.

Also keine Chance auf eine Änderung der Situation? Doch, die gibt es. Um nur ein Beispiel aus einem der inzwischen zwölf Malteser-Roma-Zentren zu nennen: Köröspatak in Siebenbürgen, Rumänien. Dort ist eine dieser unbeschreiblichen Siedlungen mit etwa 1000 Roma. Lange haben wir überlegt, wo wir ansetzen sollten. Dann hatte die Leiterin unseres Gemeinschaftszentrums die Idee, Schulkindern Reitunterricht anzubieten.

140 Kinder aus den umliegenden Schulen haben sich gemeldet – Rumänen, Ungarn und Roma. Die talentiertesten zwölf wurden genommen – alle sind Roma. Das war im Dezember 2014. Heute gibt es eine Voltigiergruppe, allgemeinen Reitunterricht, Tischlerei, Weberei, Unterricht in Hygiene und sozialem Verhalten und natürlich Nachhilfe für die Schulkinder.

Wir wollten nach gut einem Jahr wissen, was sich im Verhalten dieser Kinder geändert hat. Die Antwort: höheres Selbstwertgefühl, sauber und höflich und deutlich besser in der Schule.

DER AUTOR

Franz Salm-Reifferscheidt (geboren 1944 in Wien) studierte Rechtswissenschaften. Sechs Jahre in einer Bank tätig, 30 Jahre Geschäftsführer bei einer Babynahrungsfirma. Er war verantwortlich für den Aufbau in Osteuropa, daher immer wieder in Kontakt zu Roma. Heute ehrenamtlicher Ambassador at Large for Roma People des Souveränen Malteser-Ritterordens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2017)

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