Seelenräume

Wo Menschen einander Seelenräume eröffnen, entstehen Freiheit und Kreativität. Mit wem erfahre ich dieses Glück?

BIMAIL VON Dominik Markl SJMit Entzücken werd ich seh'n die Seele meiner Seele, das Herz meines Herzens, erfüllt von Glück!“ Diese Arie aus Vivaldis Oper „Il Giustino“ ist seit 2007 in einer hinreißenden Interpretation des französischen Countertenors Philippe Jaroussky zu hören („Heroes“, EMI). In melancholischem h-Moll entwirft der sparsam orchestrierte Satz von Streichinstrumenten eine empfindsame Landschaft, in welcher die glasklare Sopranstimme aufstrahlt, um die sehnsuchtsvolle Stimmung des „Vedrò con mio diletto“ zu entfalten.

Der Text der Arie stellt im herrlichen Sprachklang des Italienischen „l'alma dell'alma mia, il cor del mio core“ ins Zentrum: die „Seele meiner Seele, das Herz meines Herzens“ – jene Person, von der sich der Sprecher erfüllt empfindet, der er innere Räume eröffnet und in deren Herz er das eigene Herz geborgen weiß.

Vivaldi komponierte diese Arie 1724 im Alter von 36 Jahren. Seine Musik zeugt von außergewöhnlicher Tiefe menschlicher Erfahrung. Dachte er dabei an seine Lieblingssängerin Anna Girò, mit der ihn eine langjährige Freundschaft verbinden sollte? Antonio Vivaldi war katholischer Priester. Und so verwundert nicht, dass in seinem meisterhaften Ausdruck menschlicher Leidenschaft zugleich eine spirituelle Dimension durchklingt.

Das wechselseitige Öffnen von Seelen- und Herzensräumen spricht auch Jesus in mehrfacher Variation an, wenn er zu vermitteln versucht, „dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin“. Diese für die johanneischen Schriften typische Sprache der „Wechselseitigkeit und Immanenz“ hat ihre Wurzeln sowohl im Alten Testament wie auch in geistesgeschichtlichen Strömungen der griechischen Antike, etwa der platonischen Philosophie und der Gnosis. Charakteristisch für die johanneischen Immanenzaussagen ist, dass Jesus durch seine Beheimatung „im Vater“ eine Handlungsfreiheit erlangt, die überzeugend und glaubwürdig ist. Wer nicht an ihn glaubt, solle doch wenigstens seinen Werken glauben, so seine Argumentation gegenüber seinen Kritikern. Vollkommen in Gott geborgen, verstanden und aufgenommen zu sein ist gleichsam Jesu Lebensraum – ein Raum der Kreativität, ein Raum der Freiheit, in dem sich Neues und Ungeahntes entwickeln kann.

Antonio Vivaldi und Johannes der Evangelist spiegeln eine menschliche Grunderfahrung, die sich in jeder tiefen Beziehung neu verwirklicht. Eltern, die mitten in der Nacht vom Schreien geweckt werden und doch beglückt sind vom Leben ihres Kindes, erleben dies ebenso wie Herzensfreunde, die sich auch in Zeiten der Distanz der gegenseitigen Aufmerksamkeit gewiss sind.

In welchen Herzen weiß ich mich beheimatet? Wer taucht in meinen Gedanken, in meinen Empfindungen auf? Wer bewohnt meine Seelenräume?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2009)

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