Replik

Museums-marxistische Kampfrhetorik

Niemand mehr erwartet heute politische „Revolutionen“ in rechtsstaatlich-liberalen Demokratien. Eine „Diktatur des Proletariats“, wie sie orthodoxe Marxisten erhoffen, ist genauso wenig wünschenswert wie eine „Diktatur des Kapitals“.

Der Gastkommentar von Gerhard Oberkofler vom 10. April ist ein wilder Rundumschlag gegen „das Böse“ in der Welt geworden. Die Ursache dafür sei primär der Kapitalismus. Die Methode, um diesen entlarven zu können, hätte vor allem Karl Marx und nach ihm Lenin entwickelt. Deshalb bekennt der Autor, „auch heute noch Marxist sein“ zu können. Einige Gedanken dazu:

1. Wer heute Ökonomie oder Volkswirtschaft studiert, kommt an der Marx'schen Analyse des Kapitalismus nicht vorbei. Sein historisches Verdienst liegt darin, gegenüber seinen Vorgängern Ricardo und Adam Smith ein besseres Modell zum Verständnis der Wirtschaftsprozesse entwickelt zu haben. Dabei sind ihm auch grobe Fehler und Vereinfachungen unterlaufen. Allerdings haben sich die ökonomischen Modelle seither deutlich verbessert und differenziert. Wer dies leugnet, vertritt einen „orthodoxen“ Museums-Marxismus.

Totalitäres Geschichtskonzept

Ist Marx als Ökonom einigermaßen interessant, so ist sein Geschichtskonzept totalitär, eurozentristisch und fortschrittsgläubig, eine typisches Produkt des 19. Jahrhunderts. Die Kombination aus ökonomischer Basis und Historie als Höherentwicklung lässt die Menschheitsgeschichte als notwendige Abfolge von Herrschaftsverhältnissen erscheinen („Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, schreiben Marx und Engels 1848 im Kommunistischen Manifest) ehe durch die sozialistische Revolution und die „Diktatur des Proletariats“ die Historie ihren Endzustand erreiche, in dem alle Menschen frei seien.

Den Hauptwiderspruch in der modernen Geschichte bilde der Gegensatz Kapital – Arbeitskraft, der das letzte Gefecht der Menschheitsentwicklung bestimme. Wer historische Prozesse heute noch so einseitig beurteilt, hat viele Entwicklungen verschlafen.

2. Lenin hat das Marx'sche Geschichtskonzept ziemlich zurechtbiegen müssen. Denn die Oktoberrevolution hätte nach Marx in einem nicht industrialisierten, landwirtschaftlich geprägten Russland des Jahres 1917 gar nicht stattfinden können und dürfen.

3. Professor Oberkoflers Sprache erinnert an den schweizerischen Soziologen Jean Ziegler, der in seinen Büchern mit der weltweiten Ausbeutung abrechnet, dabei oft schwarz-weiß malt und mit Kraftausdrücken operiert, die ihm vor Gericht schon zahlreiche Geldstrafen eingebrockt haben. Ziegler beruft sich dabei aber nicht auf Marx, sondern auf die Menschenrechte. Das ist ein gewaltiger Unterschied, denn von den Menschenrechten hielt Marx nicht viel (Marx: „Zur Judenfrage“).

4. Das Hauptdefizit liegt darin, dass der Autor „die“ Weltgeschichte der letzten 200 Jahre über einen Kamm zu scheren versucht. Angefangen von der Kinderarbeit über die US-Außenpolitik seit 1945, die „westliche“ Rüstungsindustrie, den Kolonialismus bis hin zur EU-Flüchtlingspolitik: Die Wurzel allen Übels seien „die Monopole der kapitalistischen Weltmächte“ und die Politiker, die sie ermöglichen oder unterstützen (Kissinger, Bush, Obama in den USA, Havel, Fischer, Blair, Merkel, Kurz in Europa). Klingt wie eine linke Weltverschwörungstheorie. „Nazi“-Vergleiche dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht fehlen, um der Empörung noch mit dem Holzhammer nachzuhelfen.

Was überrascht, ist, dass Oberkofler wichtige Entwicklungen der letzten Jahre nicht mitbekommen zu haben scheint. Niemand im „Westen“ rechtfertigt heute noch den Einmarsch in Afghanistan, dem Irak oder in Libyen.

5. Das zweite große Manko dieses Gastbeitrags liegt darin, dass am Autor selbst die marxistischen Debatten seit Lenin spurlos vorübergegangen sein dürften. Die „neomarxistische“ Theorie, die Köpfe wie Horkheimer, Adorno, Marcuse, Bloch umfasst und die erst rund um die 68er-Bewegung breiteren gesellschaftlichen Einfluss gewonnen hatte, hatte schon mit einem „orthodoxen“ Marxismus gebrochen.

Aufgewertetes Individuum

Ihre zentralen Thesen: Das Individuum wird gegenüber Marx' historischem Konzept aufgewertet. Geschichte als ständige Höherentwicklung zu deuten, sei falsch. Und: Das revolutionäre Subjekt sei verloren gegangen. Der Versuch „westlicher“ Linker wie Sartre oder Dutschke (ganz im Sinne Maos), dieses Subjekt dann in der „Dritten Welt“ aufzustöbern, sollte eher als Wunschprojektion entlarvt werden denn als ökonomische Analyse.

Die Frauenbewegungen der 1970er Jahre, die sich in Abgrenzung zu den „68er-Machos“ entwickelt hatten, wiesen gegenüber der marxistischen Theorie zu Recht darauf hin, dass die „Frauenfrage“ mehr als ein bloßer Nebenwiderspruch der Klassengeschichte ist. Die Umweltschutzbewegungen der 1980er prangerten sowohl den kapitalistischen als auch sozialistischen Zerstörungseifer an.

Nach Fall des Eisernen Vorhangs hatten es Marxisten besonders schwer. Denn dieses Ereignis war in einer historisch-materialistischen Geschichtsschreibung so nicht vorgesehen gewesen. Die Kritik an Marx umfasste seither polemische Beiträge wie Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“ (1992), die Kritik von neoliberalen Besserwissern, ebenso fundierte Analysen, etwa vom französische Philosophen Jacques Derrida.

Es geht um sozialen Ausgleich

Spätestens seit dem Mauerfall glaubt niemand mehr an politische „Revolutionen“ in liberal-rechtsstaatlichen Demokratien; auch Sahra Wagenknecht mit etwas Verspätung nicht. Es geht um Reformen, sozialen Ausgleich, Demokratisierung (die Schweiz als Vorbild) und Menschenrechte. Eine „Diktatur des Proletariats“ ist genauso wenig wünschenswert wie eine „Diktatur des Kapitals“.

Colin Crouch hat in seinem Werk „Postdemokratie“ (2008) die Fehlentwicklung einer neoliberalen Globalisierung beschrieben; Thomas Piketty in seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2013) eine Datenfülle geliefert, um die weltweiten finanziellen Ungleichheiten anzuprangern; Die junge Professorin Lisa Herzog hat in „Freiheit gehört nicht nur den Reichen“ (2013) Missstände aufgezeigt, die in sozialen Marktwirtschaften ihr Unwesen treiben.

Alle drei entwickeln Verbesserungsvorschläge, ohne in eine museums-marxistische Kampfrhetorik zu verfallen.

ZUR PERSON

Mag. Dr. Wolfgang Schmid (*1966 in Wels) studierte Philosophie und Ethnologie in Wien. Bisherige Veröffentlichungen: „Entteleogisierung der Natur“ (WUV, 1995), „Log?in/Log?out. Social fiction“ (Edition Garamond, 2000).

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2017)

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