Aufgedrängte Glaubensbekenntnisse?

Kreuz im Klassenzimmer
Kreuz im Klassenzimmer(c) Michaela Bruckberger
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Gefährden Kreuze im Klassenzimmer eine religionslose Erziehung? Darf der moderne Staat Nähe zu einer bestimmten Religion zeigen? Ein umstrittener Richterspruch ist es wert, genau gelesen zu werden.

Große Aufregung, seit am Dienstag ein europäisches Gericht Kreuze in öffentlichen Schulen als unvereinbar mit dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit erklärt hat. Die Vorgeschichte: Die in Italien verheiratete Finnin Soile Lautsi beschwert sich bei einem Elternabend des Instituto comprensivo statale Vittorino da Feltre, einer staatlichen Mittelschule in Abano Terme, im April 2002 darüber, dass in den Klassenzimmern ihrer Söhne Dataico und Sami, elf und dreizehn Jahre alt, Kruzifixe hängen. Das sei dem Prinzip des Laizismus entgegengesetzt, in dem sie ihre Kinder zu erziehen wünscht. Die Direktion beschließt aber: Die Kreuze bleiben.

Lautsi geht durch alle Instanzen, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Sie sieht ihr Recht auf eine Schulbildung nach ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen verletzt und beruft sich auf Artikel zwei und neun der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“ Und: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“

Vor dem Menschenrechtsgerichtshof erklärte Lautsi, dass die Gesetze, die Kreuze in den Klassenzimmern vorsehen, aus den Jahren 1924 und 1928 stammen: das Erbe einer konfessionellen Auffassung des Staates, die heute mit seiner Pflicht zur Säkularität zusammenprallt und die durch die Konvention geschützten Rechte missachtet. [...] Indem er das Aushängen von Kreuzen in den Klassenzimmern zur Pflicht macht, erkennt der Staat der katholischen Religion eine privilegierte Position zu, was sich als staatliche Einflussnahme erweist auf das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit der Klägerin und ihrer Kinder – und auf das Recht, ihre Kinder nach ihren Überzeugungen zu erziehen, sowie als eine Form der Diskriminierung von Nichtkatholiken.

Das Kreuz habe vor allem eine religiöse Konnotation. Daran ändere auch nichts, dass es andere „Lesarten“ für das Kreuz gibt. In einem Rechtsstaat darf niemand den Staat wahrnehmen müssen als etwas, das einer Konfession näher steht als einer anderen – und schon gar nicht Personen, die wegen ihrer Jugend besonders verletzbar sind. Diese Situation wirkt sich unter anderem in einem indiskutablen Druck auf die Minderjährigen aus und vermittelt das Gefühl, dass der Staat denen fern ist, die sich nicht in der betreffenden Konfession wiedererkennen. Der Begriff der Laizität bedeutet, dass der Staat neutral sein muss und seine Äquidistanz gegenüber den Religionen unter Beweis stellen muss.

Letzter Punkt der Klägerin: Ob Lehrer frei wären, auch andere religiöse Symbole in einer Klasse aufzuhängen, müsse verneint werden – es gäbe keine Bestimmungen, die dies erlauben.


Der italienische Staat bzw. seine Vertreter wendeten ein: Die von der Klägerin angeschnittenen Fragen würden den Bereich des Rechts verlassen und in die Philosophie hinüberspielen. Es geht darum zu bestimmen, ob die bloße Anwesenheit eines Symbols mit religiöser Herkunft und Bedeutung geeignet ist, sich auf die individuellen Freiheiten in einer mit der Menschenrechtskonvention unvereinbaren Weise auszuwirken. Das Kreuz habe neben seiner religiösen Symbolik auch eine ethische Bedeutung, weil es auch Prinzipien versinnbildlicht, die von Menschen außerhalb des christlichen Glaubens geteilt werden könnten: Gewaltlosigkeit, gleiche Würde aller Menschen, Recht und Teilhabe, Vorzug des Individuums vor dem Kollektiv, Trennung von Politik und Religion, Nächstenliebe bis zum Verzeihen seiner Feinde. Sicher: Diese Werte, die heute die demokratischen Gesellschaften ausmachen, haben ihren Ursprung auch in den Gedanken nichtgläubiger Autoren, sogar solcher in Opposition zum Christentum. Dennoch wurde auch das Denken dieser Autoren von der christlichen Philosophie genährt, zumindest durch ihre Erziehung und das kulturelle Milieu, in dem sie erzogen wurden und gelebt haben. [...] Die Botschaft des Kreuzes ist also eine humanistische Botschaft, die man auch unabhängig von ihrer religiösen Dimension lesen kann. [...]

So gesehen ist das Kreuz vollkommen vereinbar mit der Laizität und für Nichtchristen und Nichtgläubige zugänglich [...] Es geht hier auch nicht um die Freiheit, eine Religion oder auch keine auszuüben; das Kreuz hängt in der Tat in den Klassen, aber es wird in keiner Weise von den Schülern verlangt, ihm das geringste Zeichen des Grußes, der Verehrung oder auch nur einer Kenntnisnahme zu erweisen.

Im Übrigen gebe es in Europa keinen Konsens zur konkreten Interpretation des Begriffs des Laizismus. Die italienische Regierung warnt daher den Gerichtshof, dem Prinzip des Laizismus einen vorbestimmten materiellen Inhalt zu geben – was der legitimen Vielfalt der nationalen Zugänge entgegenstehen würde und zu unvorhersehbaren Konsequenzen führen könnte.

Die Entscheidung, die Kreuze in den Klassen zu belassen, sei im Übrigen eine politische gewesen und müsse an den Kriterien der Opportunität und nicht der Legalität gemessen werden. Die Republik Italien hat, obwohl laizistisch, aus freien Stücken entschieden, die Kreuze in den Klassen zu belassen – aus mehreren Motiven, auch aus der Notwendigkeit, einen Kompromiss zu finden mit den vom Christentum inspirierten Parteien, die einen wesentlichen Teil der Bevölkerung repräsentieren, und deren religiösen Gefühlen. Und was die Frage beträfe, ob ein Lehrer auch andere religiöse Symbole in der Klasse aufhängen dürfe: Keine Verfügung verbietet das.


Die sieben Richter aus Belgien, Portugal, Italien, Litauen, Serbien, Ungarn und der Türkei haben am 3. November ihr einstimmiges Urteil veröffentlicht: Es liegt eine Menschenrechtsverletzung vor. In der Urteilsbegründung stellt das Gericht zunächst fest, wie es die Artikel der Menschenrechtskonvention interpretiert: Artikel zwei zielt darauf ab, einen Bildungspluralismus zu garantieren, der für den Erhalt der „demokratischen Gesellschaft“, die der Konvention vorschwebt, essenziell ist. [...] Der Respekt vor den Überzeugungen der Eltern muss im Rahmen einer Erziehung möglich sein, die fähig ist, eine offene Schulwelt sicherzustellen, die eher den Einschluss als den Ausschluss begünstigt, unabhängig von der sozialen Herkunft der Schüler, den religiösen Bekenntnissen oder der ethnischen Herkunft. Die Schule darf nicht eine Bühne für missionarische Aktivitäten oder der Predigt sein, sondern soll ein Ort der Begegnung der verschiedenen Religionen und weltanschaulichen Überzeugungen sein, wo die Schüler Kenntnisse über ihre jeweiligen Gedanken und Traditionen erwerben können.

Artikel zwei impliziere, dass der Staat bei der ihm auferlegten Erziehungsarbeit darauf achten muss, dass die Informationen und Kenntnisse auf eine objektive Weise verbreitet werden, kritisch und pluralistisch. Der Artikel verbietet dem Staat, ein Ziel der Indoktrinierung zu verfolgen [...]. Hier ist die Grenze, die nicht überschritten werden darf. [...] Die Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit des Staates ist unvereinbar mit jeglicher staatlichen Macht der Anerkennung, was die Legitimität religiöser Überzeugungen oder die Modalitäten ihrer Ausübung betrifft. Im Kontext der Erziehung muss die Neutralität den Pluralismus garantieren.

Damit kommt das Gericht zu den Schlussfolgerungen im vorliegenden Fall: Diese Überlegungen führen zur Verpflichtung des Staates, keinesfalls – auch nicht indirekt – Glaubensbekenntnisse dort aufzudrängen, wo Personen von ihm abhängig sind und, noch mehr, wo sie speziell verletzbar sind. Die Schule repräsentiert einen besonders sensiblen Bereich, denn hier ist die Zwangsgewalt des Staates Geistern auferlegt, die noch der Befähigung zur Kritik ermangeln, die es ihnen erlauben würde, Distanz zu einer Botschaft zu halten, die aus einer vom Staat auf dem religiösen Gebiet manifestierten Vorzugswahl quillt.

Auf den Fall Lautsi angewandt, führen diese Prinzipien zum Schluss, dass die katholische Mehrheit Italiens kein Grund für die Anwesenheit der Kreuze ist, sondern eher für ihre Entfernung: In den Ländern, wo eine große Mehrheit der Bevölkerung einer bestimmten Religion anhängt, kann die Manifestation ihrer Riten und Symbole – ohne Beschränkung des Ortes und der Form – Druck auf jene Schüler darstellen, die diese Religion nicht praktizieren oder einer anderen anhängen. Es sei unmöglich, das Kreuz – dessen vorherrschende Bedeutung eine religiöse sei – in der Klasse nicht zu sehen. Es müsse notwendigerweise als integrierender Bestandteil der Schulwelt wahrgenommen werden und könne daher als „mächtiges äußeres Zeichen“ gewertet werden.

Mit dieser Formulierung beziehen sich die Richter auf den Fall der Schweizer Lehrerin Lucia Dahlab, die zum Islam übergetreten war und von der Behörde gezwungen wurde, ihr Kopftuch in der Schule abzunehmen, wie das Schweizer Gesetz es befiehlt. Der Gerichtshof hatte damals eingeräumt, dass es sehr schwierig sei, „die Auswirkung eines mächtigen äußeren Zeichens wie des Tragens eines Kopftuches auf die Freiheit und das Bewusstsein sehr junger Kinder zu bemessen“, aber der Lehrerin dann doch nicht zugebilligt, in ihrer Religionsfreiheit verletzt zu sein. Denn weil es schwer sei, „das Tragen eines islamischen Kopftuches mit der Botschaft der Toleranz, des Respekts für andere und vor allem der Gleichheit und Nichtdiskriminierung in Einklang zu bringen“, habe die Schweiz recht gehabt, ihr das Kopftuch zu verbieten.

Ein solches „starkes äußeres Zeichen“ einer bestimmten Religion kann, so meint das Gericht im Fall Lautsi, emotional verstörend für Schüler anderer Religionen sein, oder für solche, die sich zu keiner Religion bekennen. Diese Gefahr ist besonders bei den Schülern gegeben, die religiösen Minderheiten angehören. Dann kommtdas Gericht auf die negative Religionsfreiheit zu sprechen – also das Recht, nicht zur Teilnahme an einem Glaubensleben gezwungen zu werden: Die negative Religionsfreiheit ist nicht auf die Abwesenheit religiöser Gottesdienste oder eines Religionsunterrichtes beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf Praktiken und Symbole, die einen Glauben, eine Religion oder den Atheismus ausdrücken. Dieses negative Recht verdient einen besonderen Schutz, wenn es der Staat ist, der einen Glauben ausdrückt, und wenn die betreffende Person sich in einer Situation befindet, aus der sie nicht herauskommt oder nur, indem sie große Anstrengungen unternimmt oder unverhältnismäßig große Opfer bringen muss.

Weder die Wünsche anderer Eltern noch politische Kompromisse rechtfertigten die Zurschaustellung religiöser Symbole. Denn: Der Respekt vor den Überzeugungen der Eltern muss auch den Respekt vor der Überzeugung der anderen Eltern berücksichtigen. Der Staat ist zur konfessionellen Neutralität im Rahmen der verpflichtenden öffentlichen Erziehung gehalten. Das Gericht kann nicht erkennen, wie das Ausstellen eines Symbols, das man vernünftigerweise mit dem Katholizismus assoziiert, in den öffentlichen Schulen dem erzieherischen Pluralismus dienen kann.

Daher der Schluss: Die obligatorische Ausstellung von Symbolen einer Konfession [...] beeinträchtigt das Recht der Eltern, ihre Kinder nach ihren Überzeugungen zu erziehen, genauso wie das Recht der Schulkinder zu glauben oder nicht zu glauben. Diese Beeinträchtigungen sind unvereinbar mit der unverzichtbaren Pflicht des Staates, die Neutralität in der Ausübung seiner politischen Funktion, besonders in der Domäne der Erziehung, zu respektieren.


Soile Lautsi hat also recht bekommen – und 5000 Euro Entschädigung, zahlbar vom italienischen Staat. Der Gerichtshof für Menschenrechte kann Regierungen nicht zwingen, Gesetze zu ändern, sondern nur in Einzelfällen urteilen. Daher ist auch unklar, wie die Sache weitergehen wird. Zunächst einmal will die italienische Regierung in Berufung gehen, also die große Spruchkammer des Gerichtes mit 17 Richtern befassen. Sollte dabei dasselbe herauskommen, so gibt es zwei Möglichkeiten: Die Pflicht zu Kreuzen in Schulklassen bleibt – dann kann jeder mit guten Chancen auf eine Entschädigung denselben Weg wie Lautsi gehen. Oder der Staat will das vermeiden – und ändert das Gesetz. Nach den ersten Reaktionen in Italien ist damit eher nicht zu rechnen. Jedenfalls ist der Druck auf Verfassungsrichter (auch in anderen Ländern) gestiegen, die Religionsfreiheit im Sinne des Straßburger Gerichts zu interpretieren.

Ungeklärt ist, ob das Instituto comprensivo statale Vittorino da Feltre in Abano Terme seinen Namen behalten darf. Vittorino da Feltre, ein Pädagogikpionier des 15. Jahrhunderts, der in seinen Methoden des Lernens durch Freude, des Turnunterrichts und der ganzheitlichen Persönlichkeitserziehung bahnbrechend war, war tiefgläubiger Katholik, der darauf bestand, dass alle Schüler täglich die Messe besuchten. Wenn man bedenkt, wie verstörend so ein Vorbild auf den Geist von Kindern wirken kann...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2009)

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