Das alltägliche Leben in der Psychiatrie

Monika Ankele durchforstete Krankenakten von Frauen in der Psychiatrie um 1900 und fand berührende Selbstzeugnisse.

Wenn Monika Ankele von ihren Studienobjekten erzählt, klingt das wie Filmstoff. In ihrer Dissertation hat sie Details aus dem Alltagsleben von Frauen in Psychiatrien von 1890 bis 1920 gesammelt und so das Leben der Internierten berührend nah kennengelernt. Etwa das von Barbara Marie Eisele, die als unehelich geborenes Kind von ihrer Mutter verlassen wird, bei Zieheltern verwahrlost aufwächst, später als Prostituierte von der Polizei aufgegriffen wird, in die Psychiatrie wandert und mit Anfang 20 stirbt. In Briefen schreibt sie, warum ihr niemand helfe, warum gerade ihr das passiere...

„Ich bin durch eine Ausstellung der Sammlung Prinzhorn auf die Geschichten der Frauen in der Heidelberger Psychiatrie gestoßen“, erzählt Ankele. Ein Doc-Team-Stipendium der ÖAW ermöglichte ihr, in Heidelberg die Krankenakten der Frauen durchzuackern. Dabei sah sich die Historikerin (Uni Wien, Betreuung Andrea Griesebner) auch Selbstzeugnisse der Frauen an: Briefe, Gedichte, Zeichnungen, textile Arbeiten und fotografische Dokumentationen. In der feministischen Forschung geistert das Bild der Hysterikerin herum, die wegen ihrer gesellschaftskritischen und das Patriarchat ablehnenden Art in die Psychiatrie gesteckt wird. Ankele fand eine zusätzliche Facette: den Alltag der Frauen. „Manche schafften sich Raum, wo kein Raum war: etwa unter der Bettdecke. Andere wandelten die einheitliche Anstaltskleidung individuell um oder schrieben Briefe, um bestimmte Speisen einzufordern.“ Auf dieser „Mikroebene“ erscheinen die Patientinnen als handelnde Akteurinnen, „was lange in der Psychiatrieforschung untergegangen war“. Da Psychiater der Jahrhundertwende sehr uneinig waren, wie man mit Diagnosen umgehen sollte, wurden die medizinischen Fakten in dieser Arbeit zur Nebensache. Dafür zeigt Ankele, deren Arbeit „Alltag und Aneignung“ im Böhlau Verlag erschienen ist, dass Frauen in alltäglichen Praktiken des Klinikalltags durchaus wirkmächtig waren. Für diese zum Teil erstmals erhobenen Selbstzeugnisse der Frauen erhielt Ankele auch den Käthe-Leichter-Preis für Geschlechterforschung des Frauenministeriums. Privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2009)

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