Gastkommentar

Der erbitterte Kampf um die Verfassungsgerichte

Verfassungsgerichte als Kontrollorgane werden abgebaut, damit Orbán, Kaczyński, Erdoğan autoritär regieren können.

Als das türkische Verfassungsgericht 2016 die Inhaftierung zweier Journalisten für unrechtmäßig beurteilte und die beiden freiließ, meinte Präsident Recep Tayyip Erdoğan, das Urteil sei gegen die Türkei und ihr Volk gerichtet, und er drohte, die Existenz des Verfassungsgerichts infrage zu stellen.

Nach Erdoğans Sieg im Referendum am Sonntag wird nicht nur die Macht des Parlaments beschnitten, sondern auch jene des Verfassungsgerichts. Wer von einem Präsidialsystem träumt, dem sind die Institutionen der liberalen Demokratie im Wege.

Dafür gibt es auch in EU-Mitgliedstaaten genügend Anschauungsmaterial: Seit Viktor Orbán mit seinem Fidesz über eine starke Mehrheit verfügt, sind die Rechte des Verfassungsgerichts eingeschränkt. Die Zahl der Richter wurde erhöht, damit Fidesz-treue Richter rasch ins Amt kamen; das Gericht darf nur noch in verfahrensrechtlicher Hinsicht, nicht aber inhaltlich prüfen, und es darf nicht mehr auf seine Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der neuen Verfassung (2012) verweisen.

Gefährdete Rechtsstaatlichkeit

In Polen ist seit 2015 die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der Jarosław Kaczyński vorsteht, an der Macht. Im Eilverfahren hatte auch sie eine Justizreform beschlossen, die unter anderem auch das Verfassungsgericht stark beschnitt. Seither schwelt ein Streit mit der EU-Kommission, die mittlerweile ein Verfahren wegen „systematischer Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“ eingeleitet hat.

Wie einst im Fall Ungarns steht die Aktivierung von Artikel 7 des EU-Vertrags im Raum, was zum Entzug der Stimmrechte im Europäischen Rat führen könnte. Allerdings wäre hierfür eine einstimmige Entscheidung der Staats- und Regierungschefs nötig. Ungarn hat bereits sein Veto angekündigt.

In Rumänien hatte der damalige Regierungschef Victor Ponta 2012 eine Abstimmung über die Amtsenthebung von Staatspräsidenten Traian Basescu veranlasst. Das Volk sprach sich dafür aus. Da sich allerdings weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligten hatten, erklärte das Verfassungsgericht das Referendum zu Recht für ungültig.

Die rumänische Regierung kritisierte diese Entscheidung als „undemokratisch“ und übte massiven Druck auf die Richter aus, sodass diese einen hilfesuchenden Brief an die EU-Institutionen schickten. Doch aus der EU kam für die rumänischen Richter ebenso wenig Hilfe wie für die ungarischen: Im Falle Rumäniens zeigten die Debatten im Europäischen Parlament die Parteiaffinitäten der europäischen Sozialdemokraten zum Sozialisten Ponta; im Falle der Regierung Orbán waren es Europas Konservative, die dem ungarischen Regierungschef, immerhin Vizepräsident der Europäischen Volkspartei, Rückendeckung gaben.

Ob nun in Ungarn, Polen, Rumänien oder der Türkei: Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird von politischen Entscheidungsträgern als Störfaktor angesehen. Ihre Rolle als Kontrollorgan bei der Verwirklichung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit hat in ihrer exekutivistischen, autoritären Politikvorstellung keinen Platz.

Allerdings müssen wir gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Die Verunglimpfung des Verfassungsgerichts hat auch unter den österreichischen Rechtspopulisten Tradition: In unguter Erinnerung ist Jörg Haiders jahrelange Auseinandersetzung mit dem Verfassungsgerichtshof. Forderte der VfGH mehr zweisprachige Ortstafeln in Kärnten, so war dessen Urteil für Haider „irrelevant“. Nur das Volk als Souverän habe das Recht, hierüber zu entscheiden, so Haider.

„Volk“ kontra „Eliten“

Ein anderes Mal nannte Haider den VfGH eine „Islamistenlobby“, weil er einen Bescheid der Kärntner Landesregierung, einem Sudanesen die Staatsbürgerschaft zu verweigern, kippte. Dient der VfGH allerdings eigenen Interessen wie der Anfechtung einer Bundespräsidentschaftswahl, scheint er plötzlich sogar den Populisten nützlich, und man geht nur gegen einzelne Richter in Sachen Ehrenbeleidigung und üble Nachrede vor.

Jörg Haiders Masche, „das Volk“ gegen das Verfassungsgericht oder generell gegen „das System“ und „die Eliten“ auszuspielen, ist innerhalb der populistischen Bewegungen Europas Mainstream geworden. EU-Korrespondent Michael Laczynski spricht richtig von einer „Haiderisierung“ Europas. So strebt aktuell Marine Le Pen im Fall ihres Sieges bei den französischen Präsidentschaftswahlen an, den Einfluss des Verfassungsgerichts zu reduzieren. Populisten monieren, das Volk sei nicht (mehr) souverän. Der Politikwissenschafter Jan-Werner Müller hat mit Blick auf die Demokratie- und Verfassungsgeschichte darauf geantwortet: Ja, genauso wurden die Republiken nach den Umbrüchen aufgebaut; weder Volks- noch Parlamentssouveränität sollten absolut sein.

Der antitotalitäre Konsens

Nachdem Diktatoren wie Hitler oder Mussolini durch Wahlen an die Macht gekommen waren, misstrauten die Staatsgründer demokratischen Mehrheiten. Deshalb sprachen sich zahlreiche westeuropäische Staaten nach 1945 und nach 1989 ebenso mittelosteuropäische Staaten für bewusst „eingeschränkte“ oder „selbstdisziplinierte“ Demokratien aus. Der antitotalitäre Konsens besagte, die Macht des Volkes zu begrenzen – unter anderem mit Verfassungsgerichten.

Populisten aller Länder propagieren nun, „dem Volk die Macht zurückzugeben“. Doch sie eröffnen keine neuen politischen Gestaltungsräume. So sind weder ihre Beschneidungen der Verfassungsgerichte noch ihre Versprechungen von mehr direkter Demokratie echte Angebote politischer Erneuerung, sondern in Form von Plebisziten der Traum eines jeden Demagogen.

Uns muss klar sein: Populisten wollen die Macht mit niemandem teilen – nicht mit Verfassungsgerichten, aber auch nicht mit dem Volk. Sie wollen mittels imperativen Mandats bloß die Form des Rechtsstaates wahren.

Demokratie und Transparenz

Die Antwort auf den allgemeinen Rechtsruck kann deshalb nur in mehr, nicht in weniger Demokratie bestehen. Nur eine hinreichende Demokratisierung gerade auch der repräsentativen Institutionen kann den autoritären Tendenzen und deren Systemkritik Einhalt gebieten. Das gilt auch für den VfGH: Er kann seine Legitimation als Kontrollorgan einer selbstdisziplinierten Demokratie nicht länger aus der „Bewahrung einer Aura inhaltlicher Unanfechtbarkeit“ ziehen, wie es der Rechtsphilosoph Alexander Somek treffend bezeichnete.

Vielmehr müsste bereits die Richterbestellung demokratisiert und die Veröffentlichung von dissenting opinions – gegenläufigen Ansichten – eingeführt werden. Mehr Demokratie und Transparenz würden den rechtspopulistischen Parolen auch hier ein wenig Wind aus den Segeln nehmen.

DIE AUTORIN

Tamara Ehs (*1980) studierte Politik-, Kommunikations- und Rechtswissenschaften in Wien, Lille und Brüssel. Sie hat soeben gemeinsam mit Heinrich Neisser bei Böhlau den Sammelband „Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie. Europäische Parameter in Zeiten politischer Umbrüche?“ herausgegeben. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2017)

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