Lissabon und das Ende der Nabelschau Europas

Selbstbeschäftigung hat die EU ein Jahrzehnt gekostet. Höchste Zeit für echte Politik – und unbequeme Fragen.

Der Nabel ist eines der bizarrsten Merkmale des menschlichen Körpers, denn, außer Staub und Brösel zu sammeln, erfüllt er keinen Zweck. Trotzdem verbringt mancher Zeitgenosse schier endlose Stunden in gebückter Haltung vor dem Spiegel damit, an seinem Nabel herumzutasten. Und übersieht, dass sich die Welt derweil weitergedreht hat.

Die Europäer haben ihrer Nabelschau gleich ein ganzes Jahrzehnt gewidmet. Einiger Staub hat sich dabei angesammelt. Auf so manche Brösel ist man gestoßen. Und dummerweise hat man bei all der pompösen Beschäftigung mit dem Entwurf einer europäischen Verfassung und, nach deren Scheitern in Frankreich und den Niederlanden vor vier Jahren, mit dem Reformvertrag von Lissabon übersehen, dass die Welt am Ende der namenlosen ersten Dekade dieses dritten Jahrtausends eine andere ist als zehn Jahre zuvor.

Indem „Lissabon“ nun in Kraft tritt, verlieren Europas Politiker ihre Ausrede, warum sie sich der großen Probleme unserer Zeit nicht mit voller Aufmerksamkeit zuwenden können. Sie werden sich von nun an daran messen lassen müssen, wie sie die politischen Werkzeuge nutzen, die ihnen der Reformvertrag in die Hände legt.


Gehen wir diese Liste der großen Probleme also im Schnelldurchlauf durch und stellen wir ein paar lästige Fragen.

Erstens, Stichwort Alterung: Können wir uns auf europäischer Ebene darauf einigen, dass es zwar wunderbar und ein Zeichen des Wohlstandes ist, wenn wir immer länger leben – dass dies aber logischerweise bedeutet, dass wir länger arbeiten müssen, wenn wir im Ruhestand auf gewisse Annehmlichkeiten nicht verzichten wollen? Natürlich fällt Sozialpolitik in die Zuständigkeit der Nationalstaaten. Bloß schlägt die haarsträubende Dummheit von „Hacklerpensionen“ und ähnlichen Abzweigungen in den massenhaften vorzeitigen Ruhestand über den Umweg steigender Staatsschulden auf die gemeinsame Ebene Europas durch. Man kann nämlich nicht eine einheitliche Politik niedriger Leitzinsen unter einer gemeinsamen Währung verfolgen, es aber einigen Staaten durchgehen lassen, durch rücksichtsloses Schuldenmachen die Glaubwürdigkeit der Währungsunion zu gefährden. Der neue permanente Ratspräsident der Union könnte seine Rolle als Vorbereiter und Koordinator der Ratstreffen ja diesem Thema widmen. Das würde ihn auch vor etwaigen größenwahnsinnigen Anwandlungen bewahren, wonach er als nicht gewählter Funktionär mit höchst knapp beschriebenem Mandat auf Augenhöhe mit dem US-Präsidenten verhandeln könne.

Die Frage nach dem Umgang mit der Alterung führt zwangsläufig zu jener nach der Zuwanderung. Soll sie zentral gesteuert werden? Das wird sich nicht vermeiden lassen, denn innerhalb Europas gibt es so gut wie keine Grenzen mehr. Aber wer soll entscheiden, nach welchen Kriterien man einwandern darf? Und was soll man mit jenen tun, die man nicht hier haben möchte?


Womit sich die nächste Frage aufdrängt: Was ist Europas größtes Sicherheitsproblem? Nein, nicht Afghanistan. Auch nicht Pakistan. Es ist der Maghreb, mit seinen hinfälligen, korrupten Regierungen, die ihren Millionen junger Männer keine Aussicht auf Wohlstand bieten, aber viele Gründe, sich religiös motiviertem Terrorismus zuzuwenden. Die Sahelzone liegt vor Europas Haustür. Doch bis auf die französische Totgeburt namens „Mittelmeer-Union“ fällt Europa nichts zu dieser demografischen Zeitbombe ein.

Und nein: Die unglückliche europäische Nachbarschaftspolitik, dieses milliardenschwere Tonikum für all jene Länder im Umkreis Europas, die man vorübergehend ruhigstellen will, ist keine Lösung. Aber ist es die EU-Erweiterung? Zweifellos ist sie das stärkste außenpolitische Mittel der Union. Nichts vermag politische und wirtschaftliche Reformen in rückständigen Gesellschaften so schnell zu bewirken wie die Aussicht, der EU beizutreten.

Doch die Erweiterung rückt an ihre Grenzen. Und zwar in ihrer Wirksamkeit, wie die – angesichts ihrer tief verwurzelten Korruption – verfrühte Aufnahme Bulgariens und Rumäniens zeigt, vor allem aber geografisch: Will man die Türkei in der EU, oder will man das nicht? Beides lässt sich – abseits fremdenfeindlicher Hetze und blauäugigem Multikulturalismus – vernünftig argumentieren. Bloß drücken sich Europas Führer vor einer klaren Aussage, wo die Grenzen der Union zu liegen haben.

Ein Jahrzehnt lang haben sich Europas politische Eliten vor diesen Fragen in stiller Selbstbeschäftigung gedrückt. Diese Zeit der Nabelschau ist endgültig vorbei.


oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2009)

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