Verfolgte Anwälte

„In der Türkei heute dieselbe Situation wie bei uns 1938“

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Wiener Anwaltspräsident klagt über den Umgang der Türkei mit Rechtsanwälten.

Wien. In der Türkei herrsche heute, was Rechtsanwälte betrifft, „genau dieselbe Situation, die wir 1938 hatten“: Mit diesem Vergleich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich prangert Michael Enzinger, Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, den Umgang Ankaras mit seinen türkischen Berufskollegen an. Die Türkei gehe gegen Rechtsanwälte wegen deren Berufsausübung vor, sie würden inhaftiert und mit Verfahren bedroht.

Wien hätte im Jahr 1938 zwei Drittel der Anwaltschaft durch einen Federstrich des Quasigesetzgebers verloren (Juden konnte die Ausübung dieses ihres Berufes untersagt werden). Auch unter dem Eindruck einer Einladung zur israelischen Rechtsanwaltskammer betonte Enzinger, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe. „Aber es passiert vor unserer Hautüre“, warnte Enzinger am Montag in einem Pressegespräch in Wien.

Besonders tragisch sei, dass nicht bloß willkürliche Vorwürfe erhoben würden, sondern dass es auch keinen Rechtsschutz mehr gebe. „Auch die Justiz ist gesäubert“, sagte Enzinger. „Eine unabhängige Justiz und unabhängige Medien funktionieren nicht mehr in der Türkei. Sie haben auch bei uns 1938 nicht funktioniert. Und niemand hat das Wort ergriffen.“

Enzinger sieht in seiner Position mögliche Abhilfen nur darin, in die Öffentlichkeit zu gehen; außerdem würden die Anwälte mit Nichtregierungsorganisationen Prozesse beobachten und einzelne Fälle vor den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg bringen. Daran dürfe man sich nicht hindern lassen, nur weil eine Verurteilung die Regierung in Ankara kaum stören werde. Punkto EU-Beitritt habe die Türkei längst und auch ohne Wiedereinführung der Todesstrafe die „rote Linie überschritten“. (kom)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2017)


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