Leitartikel

Wenn Ideologiegebäude des 20. Jahrhunderts einfach einstürzen

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Die Frankreich-Wahl zeigt erneut: Wir brauchen eine politische Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Mit alten Rezepten lässt sich der Umbruch nicht managen.

Vor der Stichwahl in Frankreich tut sich auf wirtschaftspolitischem Gebiet Seltsames: Die europäische Linke fiebert praktisch geschlossen mit dem ehemaligen Rothschild-Investmentbanker (mehr „Klassenfeind“ geht wohl nicht) Emmanuel Macron mit, der die Staatsausgaben senken, den öffentlichen Dienst verkleinern, die Unternehmenssteuern reduzieren und die Dienstleistungen liberalisieren will. Ein Programm, das in diesen Kreisen normalerweise als neoliberales Teufelszeug gilt.

Und die europäische Rechte drückt ebenso geschlossen für Marine Le Pen und damit für eine Politikerin die Daumen, die ein klassisch linkes Wirtschaftsprogramm fahren will: Banken verstaatlichen, Sozialabgaben und Steuern für Wenigverdiener (und nur für diese) senken, Rentenalter auf 60 Jahre reduzieren, Kündigungen erschweren, die Maastricht-Verpflichtung zur Staatsschuldenbegrenzung aufheben.

Und die traditionellen „Besetzer“ dieser Rechts-/Links-Positionen, die Konservativen und die Sozialisten? Abgemeldet und auf dem Weg zum Schrottplatz der Geschichte. Wie schon zuvor in Griechenland und in Italien. Und andeutungsweise in Österreich, wo sich ÖVP und SPÖ bei den jüngsten Präsidentenwahlen eine ziemlich blutige Nase geholt haben.

Da ist sehr vieles in Bewegung geraten, da sind gewohnte Ideologiegebäude am Einstürzen. Das mit einer vorübergehenden Krise erklären zu wollen, die abgehängte Globalisierungsverlierer Populisten mit einfachen Rezepten in die Arme treibt, ist eindeutig zu kurz gedacht. Diese Entwicklung, die uns nicht so bald wieder verlassen wird, hat tiefere Ursachen. Welche, denen auch die momentanen Gewinner dieses Umbruchs hilfslos gegenüberstehen. Denn auch sie versprechen nur konventionelle Rezepte gegen die Krise. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das Problem ist, dass die beiden politischen Großmächte des Industriezeitalters, Konservative und Sozialdemokraten, die Europa (und auch den Rest der Ersten Welt) recht gut durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gebracht haben, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirtschaftspolitisch hilflos gegenüberstehen. Ihre Lösungskompetenz bezieht sich auf eine Gesellschaft, in der sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer sauber auseinanderhalten lassen, in der stabile Langzeitarbeitsverhältnisse existieren, in der ausreichend Wirtschaftswachstum samt stabiler Steuerbasis zum Verteilen vorhanden ist.

Sie stehen einer Entwicklung ganz offensichtlich hilflos gegenüber, in der sich ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung in prekären freien Dienstverhältnissen, also in einer Grauzone zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer, wiederfindet, in der der Sockel an struktureller Arbeitslosigkeit ohne Aussicht auf Trendumkehr steigt, in der neue Technologien die Basis der Staatsfinanzierung bedrohen.


Das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil auch daran, dass die herrschenden Ideologien aus einer langsam versinkenden Zeit stammen, die nicht mehr wiederkehrt. Marx (spätes 19. Jahrhundert), Hayek (frühes 20. Jahrhundert) und Keynes (Mitte 20. Jahrhundert) mögen viele wirtschaftlichen Naturgesetze (Monopolisierung im ungezügelten Kapitalismus, Marktkräfte, Konjunkturzyklen) richtig beschrieben haben. Aber mit ihnen allein lässt sich eine internetverknüpfte Welt, in der Maschinen gerade dabei sind, die traditionelle Arbeit zu übernehmen, nicht mehr erklären. Und schon gar nicht managen.

Die Menschen spüren das und wenden sich von den Proponenten der untergehenden Ideologien des 20. Jahrhunderts zunehmend ab. Dass die Populisten, die davon profitieren, auch nur konventionelle – und damit wenig brauchbare – Lösungsansätze im Gepäck haben, geht in dieser aktuellen „Alles ist besser als der Istzustand“-Stimmung leider unter.

Was uns ganz offensichtlich fehlt, ist eine brauchbare politische Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Wer sie als Erster hat, dem gehört die Zukunft. Hoffentlich passiert das, bevor die aktuellen Kräfte der Destruktion das Erreichte ganz kaputt gemacht haben.

E-Mails an:josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2017)

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