Rufe nach Abbruch der EU-Verhandlungen

Außenminister Sebastian Kurz
Außenminister Sebastian Kurz(c) APA/GEORG HOCHMUTH
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Außenminister Kurz fordert eine Neuaufstellung der Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara. Präsident Erdoğan bringt seinerseits ein Referendum über Ende der türkischen EU-Ambitionen aufs Tapet.

Brüssel/Ankara. Vor dem EU-Außenministertreffen auf Malta am Freitag sind die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara bis zum Zerreißen angespannt. Nachdem sich EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn für ein „neues Format“ der Zusammenarbeit ausgesprochen hat, plädiert auch Außenminister Sebastian Kurz für eine Neuaufstellung. Kurz setzt sich seit Längerem für einen Stopp der Beitrittsverhandlungen ein. In einem Brief an Federica Mogherini, die EU-Außenbeauftragte, forderte er eine Klarstellung im Verhältnis zu Ankara und mahnte Glaubwürdigkeit ein. Es gehe um eine „tragfähige und realisierbare Neuaufstellung im Interesse beider Seiten“, formulierte er.

Auch im EU-Parlament in Brüssel stand gestern die Türkei-Frage im Zentrum der Debatte. Die Niederländerin Kati Piri, die Berichterstatterin für die Türkei, forderte den Abbruch der Beitrittsverhandlungen, sollte die Regierung in Ankara das Referendum für die Umwandlung in eine Präsidialrepublik umsetzen – woran kein Zweifel besteht. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat kürzlich überdies erklärt, er wolle möglicherweise ein Referendum über die Todesstrafe abhalten. Für die EU wäre die Einführung der Todesstrafe der ultimative Grund, die Beitrittsverhandlungen platzen zu lassen, die 2005 begonnen hatten, zuletzt de facto aber zum Stillstand gekommen sind.

Valdis Dombrovskis, der EU-Kommissionsvizepräsident, sagte, die Türkei sollte ihre Position klären. Erdoğan hatte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag ein Referendum über einen EU-Beitritt ins Spiel gebracht, um die Gespräche zu beschleunigen und die EU unter Druck zu setzen.

„Warum sollen wir länger warten?“

Sollte die Türkei weiter hingehalten werden, werde er ein solches Referendum vorschlagen, betonte Erdoğan. „Warum sollen wir noch länger warten? Wir sprechen bereits seit rund 54 Jahren.“ Er verwies auf das Beispiel Großbritanniens und die Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Die EU sei am Rande der Auflösung, sagte er angesichts der Stichwahl in Frankreich, bei der Marine Le Pen Stimmung für einen EU-Austritt des Landes macht. Die EU habe nicht begriffen, dass sie die Türkei brauche, um ihr Fortbestehen zu sichern. Er warf den Europäern überdies Islamophobie vor.

Zudem kritisierte der türkische Präsident die Entscheidung des Europarats, ein formales Verfahren gegen die Regierung in Ankara wegen des Verfassungsreferendums und des Vorgehens gegen Oppositionelle einzuleiten. Der Schritt sei politisch motiviert, sagte der Präsident. Der Europarat hatte am Dienstag dafür gestimmt, die Türkei unter Beobachtung zu stellen. Die Institution überwacht die Einhaltung der Menschenrechte, ist aber keine Institution der Europäischen Union.

Offiziell hat die EU ihre Haltung in der Türkei-Frage noch nicht geändert. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker distanzierte sich von jeder Forderung nach einem Abbruch des Beitrittsgespräche. Doch innerhalb der EU mehren sich die Stimmen, die genau dafür eintreten. Die Repressionen der Regierung in Ankara nach dem fehlgeschlagenen Putsch im vorigen Sommer gegen die Opposition, die Medien und die Anhänger der Gülen-Bewegung lösten in Europa zusehends Unmut aus – ebenso wie die Nazi-Vergleiche Erdoğans im Wahlkampf. (ag.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2017)

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