Im Rekordtempo Richtung Brexit

Kanzlerin Angela Merkel trifft zum Sondergipfel in Brüssel ein. Einziges Thema sind die Brexit- Verhandlungen. Britische Hoffnungen auf eine Sonderbehandlung durch Deutschland wurden spätestens gestern zerschlagen.
Kanzlerin Angela Merkel trifft zum Sondergipfel in Brüssel ein. Einziges Thema sind die Brexit- Verhandlungen. Britische Hoffnungen auf eine Sonderbehandlung durch Deutschland wurden spätestens gestern zerschlagen.(c) APA/AFP/THIERRY CHARLIER (THIERRY CHARLIER)
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Die Staats- und Regierungschefs brauchten auf dem Sondergipfel keine 15 Minuten, um die Leitlinien für die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien zu fixieren. London steht einer geschlossenen europäischen Front gegenüber.

Es war eine Premiere: Bis dato musste jedes Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs, zu dem nicht alle 28 Mitglieder eingeladen waren, als inoffizielle Veranstaltung deklariert werden – denn in den Unionsgesetzen sind Gipfel mit unvollständiger Gästeliste nicht vorgesehen. Mit dem Austrittsantrag Großbritanniens hat sich das geändert: Gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags, der die Austrittsprozedur regelt, müssen Treffen, bei denen der Brexit Thema ist, fortan ohne die britische Premierministerin Theresa May stattfinden. Der erste offizielle Gipfel der EU-27 fand am Samstag in Brüssel statt. Der einzige Punkt auf der Tagesordnung war der Beschluss der Verhandlungsrichtlinien – denn beim Brexit herrscht in Brüssel strikte Arbeitsteilung: Der Rat steckt zunächst den politischen Rahmen für die Austrittsverhandlungen ab, die EU-Kommission verhandelt dann im Namen der Union mit London. Und am Ende muss das Europaparlament grünes Licht geben.

Unter Zeitdruck

Die Gespräche mit den Briten dürften nach den vorgezogenen Parlamentswahlen in Großbritannien am 8. Juni beginnen. Ein Ergebnis muss bis Herbst 2018 feststehen, damit der Ratifizierungsprozess bis zum 29. März 2019 abgeschlossen werden kann. An diesem Tag erlischt die britische EU-Mitgliedschaft. Die Zeit ist also knapp bemessen, was aus britischer Perspektive nur bedeuten kann, dass London und Brüssel zugleich die Modalitäten des EU-Austritts und daskünftige Verhältnis zwischen Großbritannien und Europa fixieren müssen. Die Europäer sehen das aber anders: „Bevor wir über die Zukunft sprechen, müssen wir die Vergangenheit hinter uns lassen“, stellte gestern Ratspräsident Donald Tusk fest. Zunächst werde es darum gehen, „Trennungsverhandlungen zu führen“, sagte auch die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, kurz vor dem Gipfel.

Die Beschlussfassung selbst war mit nicht einmal einer Viertelstunde ungewöhnlich kurz, weil de facto eine Formalität. Denn auf die Details der Brexit-Richtlinien haben sich Diplomaten vor dem Treffen bereits verständigt. Die Einigkeit der EU-27 sei „erstaunlich und erfreulich“ gewesen, sagte Merkel. Man habe die Zustimmung zu den Verhandlungsrichtlinien durch Applaus kundgetan. Die Richtlinien sehen vor, dass die EU zunächst über drei Themenbereiche verhandeln wird: die Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger, den finanziellen Aspekt der Scheidung sowie den Status der Grenze zu Nordirland. Die Verhandlungen über zukünftige (Wirtschafts-)Beziehungen sollen erst eröffnet werden, wenn „substanzieller Fortschritt“ erzielt worden ist. Es ist eine bewusst unpräzise gehaltene Formulierung, die den EU-27 politischen Spielraum gibt, um großzügig zu sein – oder den Druck auf London zu erhöhen.

Schuldenfrage

Was die geschätzt drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien anbelangt, will Brüssel erreichen, dass ihr derzeitiger Status (darunter Niederlassungsrechte, Ansprüche auf Sozialleistungen) unverändert bleibt. Die finanzielle Komponente hat nach Ansicht von Insidern das Potenzial, die Verhandlungen bereits in der Anfangsphase zu sprengen. Der genaue Betrag, den die Briten der EU schulden, ist nicht klar bzw. Verhandlungssache. In Kommissionskreisen ist von 60 Mrd. Euro die Rede, wobei Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gestern davon sprach, dass dies keine konkrete Forderung, sondern eine „vorsichtige Schätzung“ sei – und, wie es Kanzlerin Merkel formulierte, in Übereinkunft mit den Briten festgelegt werden müsse. In der Irland-Frage strebt die EU eine Lösung an, die ohne „harte“ Grenze zwischen Nord und Süd auskommt.

London sieht sich also mit einer geeinten Front der EU-27 konfrontiert. Hoffnungen auf eine Sonderbehandlung durch Deutschland haben sich spätestens am Samstag zerschlagen. Einziger, wenn auch schwacher Trost: Anders als befürchtet war in den gestrigen Beschlüssen nicht explizit davon die Rede, dass die Iren im Falle einer Wiedervereinigung der britischen Provinz Nordirland mit der Republik Irland automatisch die EU-Mitgliedschaft erhalten (bzw. behalten). Implizit gilt dies aber sehr wohl, und das Vorbild dafür ist ausgerechnet die Wiedervereinigung Deutschlands.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2017)

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