Nach der Aufregung um ein angeblich desaströses Abendessen auf höchster Ebene bemüht sich die EU-Kommission um Schadensbegrenzung in den Beziehungen zur britischen Regierung.
EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagte am Mittwoch, dass die Staatengemeinschaft Großbritannien in den anstehenden Brexit-Verhandlungen nicht dazu zwingen wolle, einen Blankoscheck zu unterschreiben. Es gehe auch nicht um eine Bestrafung für den EU-Austritt des Königreichs. Auch aus London kamen mildere Töne. Brexit-Minister David Davis erklärte, eine Summe der britischen Zahlungsverpflichtungen gegenüber der EU werde erst in den Gesprächen festgelegt.
Davis reagierte damit auf einen Bericht der "Financial Times", laut der die EU der Regierung in London insgesamt brutto 100 Milliarden Euro in Rechnung stellen könnte. Das Blatt berief sich dabei auf eigene Berechnungen, die auf höhere Forderungen aus Deutschland und Frankreich zurückgingen. Barnier machte deutlich, dass er derzeit keinen Betrag nennen könne. In den Verhandlungen müsse vielmehr zunächst eine Berechnungsmethode festgelegt werden.
Gleichwohl beharrte der Franzose darauf, dass der EU-Austritt für Großbritannien nicht umsonst sei. Als Beispiele für die britischen Verpflichtungen nannte er finanzielle Vereinbarungen im Rahmen des EU-Haushalts von 2014 bis 2020, die EU-Hilfe über drei Milliarden Euro für Flüchtlinge in der Türkei, die wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine oder Mittel bei der Europäischen Investitionsbank.
Laut den Empfehlungen der EU-Kommission für ihr Verhandlungsmandat sollen die Verbindlichkeiten in Euro und nicht in Pfund festgesetzt werden. "Ferner sollte das Vereinigte Königreich die spezifischen Kosten des Austrittsprozesses wie die Verlagerung der Agenturen oder anderer Einrichtungen der Union vollumfänglich tragen", heißt es in dem Text, der die Rechtsgrundlage für die Brüsseler Behörde in den Verhandlungen mit Großbritannien bilden soll. Bei den Agenturen geht es um die Bankenaufsicht EBA und die Medizinagentur EMA, die aus Großbritannien in die EU verlagert werden müssen und um deren neuen Sitz sich mittlerweile fast alle 27 Mitgliedsländer bemühen.
Barnier wiederholte die Hoffnung, dass ein Brexit-Abkommen im Oktober 2018 unter Dach und Fach sein soll. Danach muss der Vertrag in allen EU-Staaten und im Europäischen Parlament ratifiziert werden, um den Brexit am 29. März 2019 vollziehen zu können.
Ziel nicht aus den Augen verlieren
Der aus den Savoyer Alpen stammende Barnier sagte, er teile mit Großbritanniens Premierministerin Theresa May die Leidenschaft für Bergwanderungen. Mit Verweis auf die Brexit-Gespräche ergänzte er: "Wenn Sie das Wandern in den Bergen mögen, müssen Sie lernen, einen Fuß vor den anderen zu setzen." Zudem müsse man sich die Luft gut einteilen und das Ziel des Gipfels nicht aus den Augen verlieren. May hatte in einem Interview gesagt, dass sie den Entschluss für Neuwahlen bei einer Wanderung in Wales gefällt habe.
Zuletzt war es zu Verstimmungen zwischen Brüssel und London gekommen, nachdem die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS) über Details eines Abendessens zwischen May und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker berichtet hatte. May sprach daraufhin von "Brüsseler Geschwätz", während die EU-Kommission die Angaben in dem Artikel nicht kommentieren wollte. Dem Bericht zufolge war Juncker nach dem Dinner in London weitaus skeptischer über das Zustandekommen eines Brexit-Deals.
Barnier forderte einen "kühlen Kopf" und ein lösungsorientiertes Vorgehen in den anstehenden Gesprächen. Er habe das Gefühl, dass sich diejenigen, die er in London getroffen habe, der Schwierigkeiten in den Austrittsgesprächen bewusst seien. Davis wertete den FAS-Bericht als Teil früher Manöver in den Verhandlungen. Es sei nicht wahrscheinlicher geworden, dass sein Land die EU ohne ein Abkommen verlasse.
Davis und Barnier dürften im Juni in den Verhandlungen aufeinandertreffen, falls der Brite seinen Posten als Brexit-Minister nach den Unterhauswahlen behält. Barnier stellte erste Gespräche über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien in Aussicht, falls in der ersten Phase der Verhandlungen bis zum Herbst diesen Jahres signifikante Fortschritte erzielt werden. Die britische Regierung strebt mit der Union nach dem Brexit ein umfassendes Freihandelsabkommen an.
(Tom Körkemeier und Estelle Shirbon/Reuters)