Die meisten Kandidaten der Präsidentenpartei für die Parlamentswahlen am 11. Juni haben keine Politikerfahrung. Für konservative Überläufer hält Macron die Türe offen.
Paris. Emmanuel Macron strebt einen Durchmarsch und eine absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Juni an. Er nominiert dazu Kandidaten in allen 577 Wahlkreisen der Republik. Das ist ein Fehdehandschuh für die traditionellen Parteien, die geschwächt und gespalten aus den Präsidentschaftswahlen hervorgehen. Nach dem Willen des designierten Präsidenten soll die Erneuerung der Nationalversammlung am 11. und 18. Juni aber auch zu einem großen politischen Frühlingsputz werden. Exakt die Hälfe der 428 Kandidaten, die am Donnerstag genannt wurden, sind Frauen. Die meisten sind Politikneulinge. Nur fünf Prozent der bisher Nominierten waren zuvor schon Abgeordnete.
Der Wahlsieg von Emmanuel Macron hat eine völlig neue Ausgangslage geschaffen. Die Mehrheit der bisherigen Abgeordneten der Parteien von links und rechts müssen daher um ihre Wiederwahl bangen. Für viele von ihnen musste darum die Versuchung groß sein, ihr Mandat unter der neuen Flagge der Bewegung des Siegers, Macron, retten zu wollen. Noch vor ein paar Wochen hatte Macron die Türen für solche Überläufer und Bekehrte der letzten Stunde weit geöffnet und ihnen in Aussicht gestellt, sie könnten – zumindest in einer ersten Periode – politische Doppelbürger sein und zugleich in ihrer bisherigen Partei bleiben und sich bei En marche! einschreiben.
Kein Gegenkandidat für Valls
Das hat zusätzlich Ambitionen geweckt. Mehr als 19.000 Französinnen und Franzosen haben sich seit Jänner laut Generalsekretär Richard Ferrand, dem Aufruf der in République en marche (REM) umgetauften Bewegung folgend, um einen Platz als Kandidatin oder Kandidat beworben. Allein seit dem vergangenen Wahlsonntag sollen noch Tausende von neuen Dossiers eingegangen sein.
Man darf vermuten, dass manche dieser späten Absender vorsichtigerweise abwarten wollten, ob Macron wirklich gewinnt, bevor sie den Sprung ins Ungewisse wagten. Denn niemand konnte oder wollte ihnen garantieren, dass für sie ein warmes Plätzchen, ein Wahlkreis mit besten Aussichten, reserviert würde. Das muss namentlich Ex-Premierminister Manuel Valls erfahren, der sich in dieser Woche ungefragt selbst zur Siegerparty einlud und verkündete, der Parti Socialiste sei tot, er wolle darum bei REM für einen Abgeordnetensitz antreten.
Die erste Reaktion tönte wie eine Absage: Eine Extrawurst für ehemalige Premierminister gebe es nicht, denn für alle Bewerber um eine Kandidatur würden die gleichen Regeln und Fristen gelten. Und da Valls in der Vergangenheit bereits drei Mandate gehabt habe, erfülle er nicht die Kriterien der Jury. Dennoch wolle REM für ihn nun eine Ausnahme machen: Er wird darum nicht offiziell als Kandidat nominiert, doch in seinem Wahlkreis, Évry, werde auch niemand gegen ihn aufgestellt. Das gibt Valls die Möglichkeit, sich als „Unabhängiger“ in die Nationalversammlung wählen zu lassen und dann der Fraktion von REM beizutreten.
Bekehrte der 25. Stunde
Noch fast 150 Plätze bleiben nun vor dem Ablauf der Frist am 19. Mai zu vergeben. Das lässt auch Opportunisten, die man in Frankreich die „Bekehrten der 25. Stunde“ nennt, eine letzte Chance. Vor allem die Interessierten aus dem bürgerlichen Lager wollten anscheinend wissen, wen Macron als Regierungschef vorgesehen hat. Diese Katze aber wollte er bisher nicht aus dem Sack lassen.
Lostag für „Revolution der Mitte“
Er wird nach der Amtsübergabe zuerst eine Übergangsregierung ernennen. Die definitive Zusammensetzung und die Person des Premiers muss den Ergebnissen der Parlamentswahlen Rechnung tragen: eine Figur aus den eigenen Reihen im Fall einer absoluten Mehrheit, ein Kompromiss im Fall einer Koalition, oder ein Vertreter der Opposition für eine Kohabitation, falls REM in der Minderheit sein sollte. Von der Parlamentswahl hängt ab, ob Macron seine „Revolution der Mitte“ durchführen kann oder nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2017)