Mein Körper, den ich weggeb

Von liturgisch über zoologisch bis pastoral: drei Bücher über die Liebe.

Die Liebe wächst im Kleinen, meint die Autorin eines bemerkenswerten Textes, der nach zwei Bühnenaufführungen jetzt auch im Druck vorliegt. „Kommt Ihnen das bekannt vor? Kennen Sie das? Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen gelaufen ist, aber ,dasistmeinFleischmeinBlut‘ hat sich in meiner burgenländischen Katholikenkindheit so tief eingegraben, dass ich noch immer ganz durchwortet bin.“

Das könnte für die Pfarrbibliothek geeignet sein. Aber: „Ich bin in größter Wut, ständig, über das Netz, das die katholische Kirche in unsere Hirne und Herzen geworfen hat.“ Und so geht es dahin, knappe 50 Seiten lang, komponiert als heilige Messe, also mit Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei wie bei Haydn und Mozart, Sündenbekenntnis und heilige Wandlung inbegriffen, allerdings unter Verzicht auf die Kirchentonarten. Ständig unter Hochspannung, bis zur Erschöpfung mit dem Ite, missa est.

Die angeschlagenen Themen sind so alt wie die Menschheit, so abgedroschen wie die Liebe, der Tod, die Schuld, die Erlösung vom Übel, das ewige Leben, der Glaube, das Amen im Gebet. Daher: „Im Sprengen des Rituals erzähle ich euch eine Liturgie.“

Die Autorin, geboren 1979, hat Sprachwissenschaft und russische Philologie studiert, keine Theologie. Ohne Thomas von Aquin zum Vernunftgebrauch gelangt also, was für die Frische der gottesdienstlichen Wortwahlen offenbar förderlich war. Trotzdem beim Verlesen des Sonntagsevangeliums gut aufgepasst und sich gemerkt, was Jesus zu jeder Frau sagt, die ihn lieb haben will: „Halt mich nicht fest.“

Mit derlei Einsprengseln vermag die Autorin gut umzugehen, sie fallen ohne pastorale Absicht, wirken erst viele Stunden später, wie bei Morgenstern nachzulesen. Wirst du nachts im Bette plötzlich munter, selig lächelnd wie ein satter Säugling.

Freilich nicht immer. Was Frau Tiwald mit ihrem Jesus aufführt, erinnert an einen bösen Traum. „Jesus schwitzt und schreit und schreit sich das schreckliche Bild vom Hals und brüllt: ,Das ist mein Körper, den ich weggeb und hergeb!‘“

Nichts für Kinder. „Wir haben einen Toten an die Wand gehängt, wir Nekrophilen und Angsthasen“, meint Tiwald und kann sich dabei auf eine altehrwürdige Tradition stützen, die sich in der abendländischen Kunst dem toten Mann am Kreuz zugewendet hat, neben Schlachtengemälden und nackten Frauen. Letztere „sind nicht besser, sie bluten bloß und sind das Geheimnis, und ihre Siegel sind keine heiligen“.

Weniger apodiktisch nähert sich die Autorin dem blinden Fleck jedweder Gottesdienstlichkeit. „Jeden Tag tischen wir uns den Zweifel auf wie ein Eisbein“ einerseits, „Gott übrigens ist auch nicht mehr“ andererseits. Denn „meines Wissens bin ich mir nicht sicher und meines Körpers nicht und auch dessen nicht, was angeblich wahr ist“. Die Liturgie Tiwalds zelebriert eine profunde Enttäuschung. „Vielleicht werden Pfarrerinnen und Pfarrer bald unnötig werden, vielleicht werden wir dann liturgiebefreit und ritualbefreit sein.“

Und nirgendwo ein Zensor wie zu den Zeiten Büchners, um derlei umstürzlerische Ideen vor Gericht zu bringen. 1834 bezog Büchner in seiner ersten Veröffentlichung die Textur des „Hessischen Landboten“ aus dem herrschaftskritischen Fundus der Bibel noch unter den Augen der Polizei. Tiwald schreibt als angeblich freie Schriftstellerin unter dem Diktat eines Marktes, der sich gegen praktische Konsequenzen literarischer Tätigkeit längst immunisiert hat. Die Liebe wächst im Kleinen.

Oder sie möchte ein Bestseller werden. Momentan liegen zwei Liebestitel im Rennen, einer davon von einem Verfasser, der 2008 auf Platz eins der Jahresbestsellerliste des „Spiegels“ stand, mit einem Sachbuch über das Ego. Damit kann der andere Autor nicht aufwarten. Seine Chance liegt in einer starken These, dem dringenden Wunsch nach der Vernunftehe wie gehabt.

Über das Ego sollte ich einmal eine Fernsehserie konzipieren, aus der dann nichts wurde. Precht dagegen hat es geschafft, ein staubtrockenes Thema lesbar zu machen. Auch seinem Liebesbuch merkt man die Arbeitsstunden kaum an, die beim Zusammentragen der Informationen aus zweiter, dritter, neunundneunzigster Hand zusammengekommen sind. Dabei ging es „nur um das eine: um die geschlechtliche Liebe zu einem Liebespartner“. Nur?

Das schreit zunächst nach Zoologie, für die Precht „seit Kindertagen“ eine Schwäche hat. Ihre Axiome seien leider „ohne festen Halt“. Der Autor versteht sich weder als Naturalisten, der uns Menschen streng naturwissenschaftlich auffassen möchte, noch als Idealisten, sondern als fraktionslosen Publizisten. Das klingt sympathisch. „Es gibt keine zuverlässige Wissenschaft von der Liebe.“

Kasperltheater ist gleichwohl keines zu erwarten. In drei Teilen mit 14 Kapiteln wird ausgebreitet, was Präriewühlmäuse so treu macht, und warum Chemie dabei eine Rolle spielt, worin der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen besteht, was Ideale im Familienleben bedeuten. Lüsterne Oldies werden dabei kaum auf ihre Rechnung kommen. Charlotte Roches Millionenseller vom Vorjahr („Feuchtgebiete“) fehlt im Register ebenso wie der Marquis de Sade und das Kamasutra. Lediglich Erich Fromm („Die Kunst des Liebens“) wird kurz durch den Kakao gezogen, nicht zu Unrecht, weil langweilig. Laut Precht darf Fromm als Vater jener Flut von Sinngebungsprosa gelten, die gegenwärtig in den Buchhandlungen das ultimative Liebesglück verspricht und nicht halten kann. „Der Griff zum Buch verändert weder das Leben noch die Partnerschaft“, weiß Precht. Kecker noch wäre es gewesen, diesen Befund auf die Klappe seines eigenen Buchs zu setzen. Immerhin hat er zum Schluss einen Rat bereit, dem auch die Gemüsefrau nicht widersprechen wird: Im Ehekrieg seien die Worte „immer“ und „jedes Mal“ tunlichst zu vermeiden.

Weitaus pastoraler geht Sven Hillenkamp sein Liebesbuch an, durchwegs in Moll. Er hat wie Precht Philosophie studiert und attackiert „die Menschen“ auf jeder Seite. Sie gehen „nackt durch die Straßen“, „küssen einen, den sie bis vor Kurzem noch nicht kannten“, „stellen sich fremd gegenüber allem sogenannten Alten“, „sind in Wirklichkeit von jedem Partner in einem fort enttäuscht“. Und sie wähnen sich frei, wie in der Französischen Revolution gefordert. „Die freien Menschen entwickeln Fantasien von sich selbst, die unendlich entfernt sind von der Wirklichkeit. Ihre Erwartung hat sich vollständig von ihrer Erfahrung gelöst. Im Vertrauen auf die Macht von Bildung, Karriere, Therapie, auf die unendliche Freiheit des Selbstentwerfens entwickeln sie eine Selbsterwartung, die alle Selbsterfahrung von Unfähigkeit, Kraftlosigkeit, Müdigkeit hinter sich lässt.“ Ob das auch für die Misthaufenkinder in Kairo gilt, lässt der Autor offen. Sie verfügen in der Regel über keinen PC, um sich im Internet bei der Partnersuche helfen zu lassen.

Eben dieses Benehmen stört den Autor. Er hat „Paare, Passanten“ von Botho Strauß gelesen, dem bereits 1981 aufgefallen war, wie trübselig das Lustprinzip der ihm vertrauten Alterskohorten daherkam. So sieht es auch Hillenkamp, Jahrgang 1971, der zwischendurch bei der „Zeit“ tätig war. Hamburg hat ihm offenbar nicht gutgetan. Sein verhangener Blick sucht und findet den Grund für die Misere des Genussmenschentums in der (deutschen?) Romantik von vor 200 Jahren. „Für den romantisch Liebenden hieß sich zu verlieben sich zu verbessern, sein Utopia in einem anderen Menschen zu entdecken. Der andere war ein Tor zur Unendlichkeit.“

Dagegen wird wenig einzuwenden sein, auch wenn nicht zu erfahren ist, ob Heinrich Heine oder der junge Marx ins Visier geraten ist. Derlei Details stören sichtlich den Redefluss Hillenkamps, in dem „unscheinbare Wörter wie Steine ausgelegt“ sind, die Halt bieten sollen: „ein Infolgedessen, ein Denn oder Weil, ein Und oder Also“. Oder eben „Selbstentwerfen“, „Selbsterwartung“, „Selbsterfahrung“ nebeneinander in einem Satz, wie oben zitiert. Das Lektorat im Verlag Klett-Cotta hat auch schon bessere Zeiten gesehen.

Ein gewisses Frösteln beim Lesen der „Nichtliebesgeschichten“ (Teil eins) ist durchaus erlaubt. Es verstärkt sich, wenn über die Frage nachgedacht wird, „wie eine Unendlichkeit möglicher Partner entstehen konnte“ (Teil zwei), und verliert sich auch nicht beim Studium der Nichterfüllbarkeit gegenwärtiger Liebeswünsche (Teil drei). Warm ums Herz darf der Gemeinde Hillenkamps erst werden, wenn die Vernunftehe gepredigt wird (Schlusskapitel).

Vor dem Amen fällt ein merkwürdiger Satz: „Ich kann mich im Bewusstsein von der Erde lösen“ (Epilog). Auch von Weib und Kind? Dann ab ins Kloster. Dort gilt das Wort des Apostels: Die Liebe höret nimmer auf.

Im Unterschied zur unheiligen Messe Katharina Tiwalds sehen Precht und Hillenkamp keine bedingungslose Liebe am Horizont, während Tiwald „die Sache mit Brot und Wein“ nicht aus den Augen verliert. „Damit uns der Gestorbene, der das Sterben schon hinter sich hat, mitnimmt.“ Und: „Eins werden, endlich eins werden, hineinkriechen in den Gottmensch, wie wir nicht einmal in den Liebsten hineinkriechen können.“ Eben deshalb verrät Tiwald gern, „dass es die Liebe immer noch gibt“. Mit sehr bestimmtem Artikel. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2009)

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