Für Ärztinnen wie Ursula Leinich bedeutet die H1N1-Impfaktion Akkordarbeit. Sie selbst ist nicht geimpft. "Das Monsterprogramm", meint sie, diene vor allem der Beruhigung.
Drei Schritte: zwischen dem Tisch, auf dem Serum und Spritzen liegen, und dem Stuhl, auf dem die Patienten mit nacktem Oberarm warten. Nur drei Schritte, ansonsten ein Stehen und Bücken, die ganze Schicht, die ganzen fünf Stunden lang, bis zu 200Menschen am Tag. Das geht ins Kreuz.
Ursula Leinich ist Allgemeinmedizinerin. Im Gesundheitszentrum Mariahilf in Wien verabreicht sie an normalen Tagen Infusionen, macht Vorsorge- und Mutter-Kind-Untersuchungen, leistet Erste Hilfe und ab und zu impft sie auch: gegen die Krankheiten, die Zecken übertragen, oder gegen Hepatitis, hin und wieder spritzt sie Insulin. Aber die letzten Tage waren nicht normal, sie waren „das Monsterprogramm“, wie die 54-Jährige sagt, etwas, das Leinich in ihrer Karriere noch nicht erlebt hat. Es bedeutet Impfen im Akkord, in zwei Schichten gegen die Neue Grippe. Bei den Gebietskrankenkassen wurden in der vergangenen Woche alle verfügbaren Ärzte dafür rekrutiert: Orthopäden genauso wie Allgemeinmediziner wie Leinich. Kontrollärzte, die üblicherweise Krankenstände überprüfen, genauso wie Kinderärzte.
Konstruierte Angst. Es mussten Zentren gebildet werden, Impfstraßen, in denen der verderbliche Impfstoff zügig verabreicht werden konnte. Wie erwartet, kam der Ansturm, und die Nachfrage nach der Immunisierung wird nur langsam schwächer. Es seien viele, die geimpft werden wollen, viele, die eigentlich gar nicht gefährdet seien, meint Leinich. Weggeschickt wird aber niemand: „Wir müssen das durchziehen.“ Sie selbst ist nicht geimpft, nicht gegen die „normale“ Influenza, nicht gegen die Neue Grippe. Weil sie, wie Leinich sagt, sich nicht fürchtet vor dieser Krankheit.
Die Stimmung sei aber bestimmt durch eine „konstruierte Angst“, die damit begonnen habe, dass in Mexiko auch anscheinend junge und gesunde Menschen an der Neuen Grippe starben. Die Ärztin spricht von den sanitären und hygienischen Bedingungen in Mexiko, die nicht vergleichbar seien mit jenen in Europa. Aber kurz vor dem Start der Impfaktion kam auch die Meldung über den ersten Todesfall in Österreich. Da kippte die Stimmung: „Die Angst wurde durch Medienberichte über komplizierte Krankheitsverläufe aufgebaut. Aber jedes Jahr sterben Menschen an der Grippe, nur an der Schweinegrippe darf man offenbar nicht sterben.“ Leinich gehört nun zur landesweiten Impfarmada, die mit ihren Spritzen vor allem eines bekämpft: die rasante Ausbreitung der Panik. Ist das sinnvoll? „Ja“, meint Leinich, „insofern, als man Leuten hilft, die sich fürchten und ihnen ihre Sorge nimmt. Das ist die Mühe wert.“ Noch anstrengender als das stundenlange Stehen und Bücken, findet sie, sei es, sich alle paar Minuten auf einen anderen Patienten einzustellen, auf unterschiedliche Persönlichkeiten, und geistig wach zu bleiben.
Leinich selbst wird sich auch in Zukunft nicht impfen lassen. Weil sie nicht zur Risikogruppe gehört, nicht chronisch krank ist, das war schon immer ihre Meinung, halte sie Abstand zur Spritze. Allerdings, und das passiert ihr nun erstmals nach fast 30 Jahren im Job, überlegt sie, ob sie damit noch recht habe: „Wenn man diese Massen sieht, überlegt man, ob es nicht doch besser wäre.“ Wenn Leinich das sagt, lächelt sie. So, als sei sie selbst davon überrascht, was sie sagt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2009)