Was der Eurovision Song Contest der Ukraine gebracht hat – und was die Besucher gelernt haben. Ein Fazit zur 62. Ausgabe des Gesangswettbewerbs.
Wenn Ukrainer nach Westen reisen, dann fahren sie „nach Europa“. Dieser Satz sagt viel über die Selbstwahrnehmung im Kreis der europäischen Nationen aus. Natürlich, geografisch ist die Ukraine Teil Europas, daran zweifelt niemand. Aber fühlt man sich politisch zugehörig? Und erst recht mental? Das Land war in der Sowjetzeit von den Entwicklungen in der Mitte des Kontinents abgeschnitten. Auch heute noch sehen sich viele Ukrainer hinter einer hohen Mauer stehen. Man befindet sich vor den Toren der Europäischen Union und hat mit Russland einen unberechenbaren Nachbarn.
Ein Song Contest kann keine Mauern abbauen. Die Ukraine ist kein Mitglied der EU und wird es leider noch länger nicht sein. Und doch sind europäische Großevents wie der Song Contest oder die Fußballeuropameisterschaft im Jahr 2012 eine wertvolle Chance. Für beide Seiten.
Vielfalt feiern
Viel wurde über das ESC-Organisationschaos in Kiew geschrieben. Doch in der Ukraine ist es so: Die besten Dinge passieren in letzter Minute. Das Land war ein großzügiger und herzlicher Gastgeber. Vor allem das Heer an Freiwilligen gab sich allergrößte Mühe, den Gästen die fremde Welt zu erklären: von kyrillischen Aufschriften bis hin zu kulinarischen Tipps. Die ausgelassene Stimmung, die vielen Dialoge zwischen Unbekannten und die spontanen Gruppen-Selfies, die man in der vergangenen Woche auf den Straßen Kiews beobachten konnte, sind die beste Einlösung des diesjährigen ESC-Slogans „Vielfalt feiern“. Die vielen schwulen Eurovision-Fans zogen neugierige Blicke auf sich. In Kiew geht es sonst nicht so offen zu. Für manche war es wohl auch ein kleiner Kulturschock. "Gut so", meinte ein Teilnehmer.
Freilich: „Vielfalt feiern“ für ein paar Tage ist eine Sache, Vielfalt leben eine andere. Ein Test, wie ernst es die Ukraine tatsächlich mit dem Motto meint, wird die „Kyiv Pride“ im Juni sein. Teilnehmer der Homosexuellenparade wurden in der Vergangenheit von rechten Schlägern attackiert.
„Freedom is our religion“: Dieser Slogan prangte dieser Tage auf dem Maidan. Das Ziel der Ukraine, sich als offenes und friedliebendes Land zu präsentieren, dürfte größtenteils aufgegangen sein. Dank umfangreicher Sicherheitsvorkehrungen ging der Event ruhig über die Bühne, Magenverstimmungen zählten zu den schlimmsten Zwischenfällen. Viele Besucher waren erstaunt, was für eine elegante, helle und grüne Stadt Kiew ist. Es sind diese Eindrücke, die bleiben.
Und was wurde eigentlich aus der Affäre um die mit Einreiseverbot belegte russische Kandidatin? Sie war am Samstagabend glücklicherweise kein Thema mehr. Russland ignorierte den ESC auf allen Kanälen. Gut, dass man auch von ukrainischer Seite das Thema nicht mehr aufkochte. Denn Kiew hatte im Vorfeld viel Prügel bezogen, nachdem man Julia Samoilowa wegen ihres Auftritts auf der Krim (ein Verstoß gegen nationales Recht) nicht zum Wettbewerb anreisen ließ. Andreas Umland, deutscher Politikwissenschaftler in Kiew, ist der Meinung, dass „absolute Schadensvermeidung in diesem Fall nicht möglich war“. Das stimmt wohl. Hätte man Samoilowa einreisen lassen, wäre die Ukraine als inkonsequent erschienen. Die Affäre wird in den Gremien der EBU ein Nachspiel haben. Russland will Samoilowa, die unterdessen noch einmal auf der annektierten Krim auftrat, auch im nächsten Jahr für den ESC nominieren. Nun, Moskau hat ein Jahr Zeit, um seine zynische Politik zu überdenken.
Die ESC-Karawane zieht heute weiter. Was bleibt? Die Ukraine ist nun auf der Mental Map vieler Fernsehzuschauer eingezeichnet. Die Besucher werden berichten. Und Mundpropaganda ist bekanntlich die beste Werbung.
Auch für die ukrainischen Bürger gab es in dieser Eurovisions-Woche neben der Musikparty etwas Handfestes zu feiern. Sie werden künftig visafrei für 90 Tage in die EU einreisen können, ohne Einladung, ohne stundenlanges Warten vor Konsulaten wie bisher. Ost und West rücken zusammen. Der Tag kommt näher, an dem die Ukrainer nicht mehr „nach Europa“ reisen müssen.