Amsterdam: Man ist doch nicht nur zum Studieren hier!

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Warum sich ein Erasmus-Semester auch lohnt, wenn die Gast-Uni zum Verzweifeln ist. Und was ein rostiges Fahrrad mit der Amsterdamer Unterwelt zu tun haben könnte. Ein paar Erinnerungen.

Meinen Schlüssel zur Stadt erhielt ich an meinem dritten Tag in Amsterdam: Er war schwarz, hatte einen knallorangefarbenen vorderen Kotflügel, einen rostigen Lenker und ein schweres Kettenschloss, das allein den Kaufpreis wert war. Für 20 Euro erwarb ich das Eingangrad – mehr wäre bei der niederländischen Topografie auch maßlos übertrieben – von einer Erasmus-Kollegin. Viel wusste ich über die Provenienz des Rads nicht. Dass es eine ereignisreiche Geschichte haben könnte, wurde mir bewusst, als ich es erstmals zum Service brachte: Wo ich das Rad denn her habe, fragte der Mechaniker ganz geheimnisvoll – und ließ anmerken, dass er es wiedererkannt habe . . .

Wilde Ideen füllten meinen Kopf: War der Vorbesitzer eine schillernde Figur der Amsterdamer Bikerszene? Ein Unterhändler der Drogenmafia, der im Rahmen eine geheime Information versteckt hatte? Oder hatte das Rad schlicht der Tochter des Mechanikers gehört und war ihr gestohlen worden, bevor es über den florierenden Fahrradschwarzmarkt in Umlauf geriet und schließlich bei mir landete?

Studentenheim im Nirgendwo

Ich sollte es nicht herausfinden. Es blieb der aufregende Gedanke, dass es ein besonderes Gefährt war, das mich ein Semester lang im Frühling 2013 durch das niederländische Flachland trug. Und Mobilität war wichtig: War ich schließlich nicht, wie erträumt, in einem der schmucken schiefen Häuschen in der Amsterdamer Innenstadt gelandet, sondern in einem zehnstöckigen Studentenheim am unwirtlichen Stadtrand. Meine Nachbarn waren allesamt internationale Studenten, von denen ein nicht unerheblicher Teil der erhofften Rauscherfahrungen wegen in die Stadt gekommen war. Klischee olé.

Natürlich gab es auch genug Kollegen, die nicht nur in Sachen Cannabis abenteuerlustig waren. Gemeinsam trat man also an, die Stadt zu entdecken, ihre Märkte und Straßenfeste, ihre Hipstercafés und Partyviertel, man fuhr zu Museen und Seen, bewunderte Tulpenfelder und Kunst aus Industrieschrott, saß am Rand der Grachten, trank Bier aus winzigen Gläsern und kam sich dabei sehr kosmopolitisch vor.

»Bereut habe ich es trotzdem nie.«

Katrin Nussmayr

Und man studierte. Die Hochschule, die ich dort besuchte, war aber von Beginn an eine Kompromisslösung gewesen: Eine andere Uni hatte die Fächer, für die ich ursprünglich angemeldet war, kurzfristig eingestellt, ich brauchte innerhalb einer Woche Ersatz – denn das Zeitfenster, in dem man im Rahmen meines FH-Studiums für Journalismus „auf Erasmus gehen“ konnte, war knapp. Ich stieß auf eine Hochschule namens Inholland, von der ich noch nie gehört hatte. Die Website war knallig, die Vertreterin am Telefon freundlich, die Last-Minute-Organisation erstaunlich unkompliziert. Besser auf irgendeine Uni als auf gar keine, dachte ich mir. Die Hochschule stellte sich dann als furchtbare Wahl heraus, mit inkompetenten Lehrenden und erschreckend niedrigem fachlichen Niveau. Aber immerhin war ich auf Erasmus.

Bereut habe ich es trotzdem nie. Es war eine Zeit voller Reisen, Einblicke in die niederländische Lebenskunst und Freundschaften, die bis heute halten. Und es ist aufregend, eine Stadt zu erkunden, bis man jede Ecke zu kennen meint – und gar nicht mehr verwundert schaut, wenn eine Familie beim Umzug ihr Klavier durchs Fenster in den zweiten Stock hievt, weil die Amsterdamer Stiegenhäuser so eng sind. Oder wenn ein junges Pärchen händchenhaltend auf Fahrrädern über das Kopfsteinpflaster poltert, dass die Ikea-Pakete auf den Gepäcksträgern nur so wackeln.

Mein eigenes Rad hielt fast bis zum Ende durch. Am Tag der Abreise war ich für einen letzten Kaffee die acht Kilometer ins Stadtzentrum geradelt. Auf dem Rückweg blockierten die Pedale, dann brach der Kotflügel ab, schließlich fiel der ganze durchgerostete Rahmen auseinander. Ich musste die Reste neben dem (zweispurigen!) Radweg zurücklassen. Nur das Schloss nahm ich mit – eine Aura des Geheimnisvollen verströmt es für mich bis heute.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)

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