Pionier

"Das war meine Initiation als praktizierender Europäer"

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Richard Kühnel war einer der allerersten österreichischen Erasmus-Studenten. In Lyon sparte er für gutes Essen, spielte Pétanque im Park und erfuhr, was Europa wirklich bedeutet. Heute ist er als Vertreter der EU-Kommission die Brücke zwischen Brüssel und Berlin.

„Es war eine Entdeckungsreise ins Unbekannte“, sagt Richard Kühnel über sein Erasmus-Jahr in Lyon. Und zwar eine Entdeckungsreise im doppelten Sinn. Nicht nur, weil es für den Juristen erstmals für längere Zeit in ein anderes Land ging: nach Frankreich. Sondern auch, weil damals, vor mittlerweile 25 Jahren, noch niemand recht wusste, wie dieses Erasmus eigentlich genau funktionierte. „Keiner hat gewusst, was auf einen zukommt – nicht die Studenten, nicht die Lehrenden und auch nicht die Uni-Verwaltung“, erzählt der 47-Jährige.

Man schreibt das Jahr 1992 – ein Jahr, in dem Österreich seine ersten 893 Studierenden per Erasmus ins europäische Ausland geschickt hat. Unter dieser allerersten Generation österreichischer Erasmus-Studierenden ist auch der damals 22-jährige Jusstudent Richard Kühnel, für dessen spätere Karriere das Jahr in Lyon prägend sein sollte: Als Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland ist er heute gewissermaßen die Brücke zwischen Brüssel und Berlin. „Und dieses Jahr in Frankreich war sozusagen meine Initiierung als praktizierender Europäer.“

Kein Zimmer, keine Wohnung

Doch von vorn. „Ich war damals schon fast mit dem Studium fertig und wollte unbedingt ein Auslandssemester machen“, erinnert sich Kühnel, der gerade auf Heimaturlaub in Graz ist. „Da ich damals schon den Berufswunsch Diplomat hatte, wollte ich unbedingt in ein französischsprachiges Land, um mein Schulfranzösisch zu verbessern.“ Er recherchiert, er sucht nach Möglichkeiten, um ins Ausland zu gehen, als das Erasmus-Programm nach Österreich kommt. Kühnel bewirbt sich („Wir waren in Graz 32 Interessenten für 29 Studienplätze im Ausland“) für Lyon. „Für einen Grazer hatte es irgendwie Charme, nicht in die größte, sondern in die zweitgrößte Stadt Frankreichs zu gehen.“

An den Tag, an dem er mit dem Auto im Südosten Frankreichs ankommt, erinnert er sich noch gut. „Es war Nachmittag, es war schon recht spät, ich hatte kein Zimmer und keine Ahnung, wo ich wohnen würde“, erzählt er. Kein Problem: Die Uni-Verwaltung weist ihm ein Studentenzimmer zu, in das er nur wenige Stunden später einzieht. „Neun Quadratmeter, sogar ein kleiner Balkon: Das ist sich finanziell ausgegangen.“

SCHNARR Ulrich / APA / picturede

Ein Besuch bei Paul Bocuse

Die Zahl der anderen Nichteinheimischen an der Université Lyon 2 – einer von insgesamt drei Universitäten in der 500.000-Einwohner-Stadt – ist überschaubar. „So etwas wie im Film ,L'Auberge Espagnole‘ gab es damals nicht. Große Erasmus-Partys, eine Community von ausländischen Studenten: Das war damals noch überhaupt nicht institutionalisiert.“ Kühnel schreibt sich für Völkerrecht und internationale Beziehungen ein („Das haben wohl die meisten Auslandsstudenten getan“). „Aber das Wichtigste sind ja nicht die Prüfungen, das sind die Sprache, die Menschen und die Kultur.“ Er habe in seinem Jahr in Lyon wirklich versucht, in die französische Lebensart einzutauchen.

Dazu gehört natürlich auch das Essen. Damit er ein bisschen von der wahren französischen Küche mitbekommt, spart er. „Unter der Woche habe ich versucht, mit zehn Francs, also 20 Schilling pro Tag auszukommen, um dann am Wochenende in ein gutes Restaurant zu gehen“, erzählt Kühnel. „Der kulinarische Höhepunkt war ein Essen bei Meisterkoch Paul Bocuse – das hat allerdings mein Vater finanziert.“ Eine andere kulturelle Erfahrung: Pétanque – hierzulande auch bekannt als Boule. „Jeden Sonntag gab es bei uns im Park Pétanque. Klassisch, mit alten Franzosen, die im Ruderleiberl und mit der Zigarette im Mund ihren Nachmittag verbracht haben.“ Mit denen habe er regelmäßig mitgespielt. Und es am Schluss sogar zu einer gewissen Expertise gebracht.

Vertretung der EU-Kommission in

Ungewöhnlich findet er den Umgang mit den Professoren. „Ich war es aus Österreich gewöhnt, da und dort auch mit den Professoren anderer Meinung zu sein. Das ging in Frankreich gar nicht.“ Er könne sich an die entsetzten Blicke der französischen Mitstudenten erinnern, als er einmal in einer Vorlesung gewagt habe, dem Professor etwas entgegenzusetzen. „Vor allem die anderen Studenten waren da schockiert.“

„Von den Sprachkenntnissen gezehrt“

Nach Erasmus geht es für Kühnel rapide weiter in Richtung Europa. Eine Minirückkehr nach Graz („Eigentlich nur für die letzte Strafrechtsprüfung und für die Sponsion“), dann gleich weiter für ein Praktikum nach Brüssel und dann nach Florenz mit der Idee, dort ein Doktorat zu machen – das er letztlich niemals abschließt, weil er inzwischen die Aufnahmeprüfung im Außenministerium für den Diplomatischen Dienst besteht. Er beschäftigt sich zuerst mit Osteuropa, dann mit Japan. Er geht nach New York und dann mit der damaligen EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner (ÖVP) nach Brüssel. Vor acht Jahren kommt er als Vertreter der EU-Kommission wieder nach Wien, seit drei Jahren hat er die gleiche Funktion – die Ideen aus Brüssel mit dem jeweiligen Mitgliedstaat abzustimmen – nun in Berlin.

„Für den Berufsweg hat die Auslandserfahrung enorm viel mitgespielt“, sagt Kühnel. Nicht nur, weil er, wie er sagt, in seinen ganzen ersten Berufsjahren von seinen vertieften Französischkenntnissen aus Lyon gezehrt habe („Wenn man in einem anderen Land lebt und den Alltag bewältigen muss, hat man eine ganz andere Basis“). Sondern auch, weil Erasmus aus einem theoretischen Europäer einen praktischen mache, sagt er. „Ich bin aus der 89er-Generation: die Wende, das Zusammenwachsen Europas, der österreichische Beitrittsantrag an die EU. Aber das war eher Theorie“, sagt er. „Wie man in der Praxis wirklich zum Europäer werden kann, das habe ich zum ersten Mal in Lyon erfahren.“

AUF EINEN BLICK

Mit 893 Studenten startete Österreich im Herbst 1992 ins Erasmus-Programm – Richard Kühnel, heute Vertreter der EU-Kommission in Brüssel, war damals einer von ihnen (siehe Artikel links). Seitdem hat Österreich mehr und mehr Studierende mit Erasmus ins Ausland geschickt. Zuletzt waren es im Herbst 2015 fast 5000 Studierende.

Insgesamt waren zwischen 1992 und 2017 mehr als 100.000 österreichische Erasmus-Studenten im Ausland. Darunter sind auch andere Prominente, etwa der Schauspieler und Regisseur Michael Ostrowski, der ab Herbst 1993 ein Jahr im britischen Oxford verbracht hat (siehe Artikel rechts oben).

Gestartet wurde Erasmus im Jahr 1987 mit elf europäischen Ländern. Fünf Jahre danach stieß auch Österreich dazu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)

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