"Das Erasmus-Programm hat voll gewirkt"

©Susanne Schleyer / autorenarchi
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Der Brexit wird für Austauschprogramme zur Herausforderung, warnt der Historiker Philipp Ther.

Die Presse: Herr Professor, Sie haben in Regensburg, München und Georgetown studiert. Erasmus kam da für Sie wohl nicht infrage.

Philipp Ther: Nein. Ich bekam ein Fulbright-Stipendium zugesprochen, und Georgetown ist eine sehr gute Universität. Unabhängig davon ist Erasmus eine wesentliche Errungenschaft der Europäischen Union und hat wesentlich zur Integration Europas beigetragen.

Liest man den Ratsbeschluss vom 15. Juni 1987, mit dem das Erasmus-Programm gegründet wurde, fällt auf: Es geht vorrangig um die „Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft auf dem Weltmarkt“ und das „Ausschöpfen des gesamten geistigen Potenzials der Hochschulen“. Das Kennenlernen anderer Mitgliedstaaten ist bloß ein Nachsatz. War das ein Fehler?

Wie auch immer die damaligen Ziele formuliert gewesen sein mögen: Wesentlicher Bestandteil von Erasmus war und ist, dass die Studierenden andere europäische Länder kennenlernen, ihre Sprachkenntnisse vertiefen. In diesem Sinn hat das Programm voll gewirkt. Man darf nicht vergessen, dass es auch ein Programm für die Mobilität von Dozenten gibt. Das habe ich genutzt, um an die Central European University in Budapest zu gehen. Dieser Austausch trägt wesentlich zum Verständnis für andere Wissenschaftskulturen und zur Verbesserung der Sprachkenntnisse bei.

Erasmus ist eine Erfolgsgeschichte – aber nur für eine schmale, privilegierte Schicht von jungen Menschen, die studieren können. Sehen Sie eine Gefahr, dass sich somit ein Elitenprojekt selbst verstärkt?

Es liegt sicher eine gewisse Gefahr darin, dass Erasmus vor allem eine bestimmte Klientel bedient. Aber es gibt auch Programme für junge Leute in Berufsausbildung. Die sind leider weniger bekannt. Wichtig ist auch der Austausch der Schulen, nur kann das nicht allein die EU stemmen. Dieser Schüleraustausch liegt auch im Interesse der Mitgliedstaaten.

»Man kann nur hoffen, dass die EU nach dem Brexit budgetär in der Lage ist, solche Programme auszustatten.«

Philipp Thier

Sie sprachen die Central European University in Budapest an. Die wird von der nationalkonservativen ungarischen Regierung in ihrer Existenz bedroht. Woher kommt dieser antiintellektuelle Antrieb in Ländern wie Ungarn und Polen?

Man sollte weniger von einem Antrieb in den jeweiligen Ländern als den konkret handelnden Personen reden. In Ungarn hat Ministerpräsident Viktor Orbán eine persönliche Fehde mit George Soros, der die Universität mit einem großen Stiftungsvermögen ausgestattet hat. Alle Investoren werden es sich genau anschauen, wie man mit einem letztlich mittelständischen Betrieb, der mit ausländischem Kapital gegründet wurde und enorm floriert, zu den besten Universitäten des gesamten Raumes zählt, umgesprungen wird. Diese Art von Anti-Kosmopolitismus, bei der immer auch eine Spur von Antisemitismus mitschwingt, ist ein schlechtes Zeichen für die Zukunft Europas, aber vor allem Ungarns.

Im Erasmus-Beschluss von 1987 findet sich auch ein schüchterner Verweis darauf, den „Begriff eines Europas der Bürger zu festigen“. Ist die Union diesem Ziel drei Jahrzehnte später näher gekommen?

Das ist ein schwieriges Unterfangen. Generell kann man sagen, dass sich dieses Europa nicht nur von oben, sondern auch von unten bildet, vor allem durch Arbeitsmigration. Die wird derzeit stark attackiert, aber letztlich profitieren alle Mitgliedstaaten von ihr. Man kann nur hoffen, dass die Europäische Kommission nach dem EU-Austritt Großbritanniens weiterhin budgetär in der Lage ist, solche Programme entsprechend auszustatten.

Dem europäischen Gründervater Jean Monnet wird fälschlich das Zitat „Wenn ich es noch einmal tun müsste, würde ich mit der Kultur beginnen“ in den Mund gelegt. Wäre das ein Weg, um das Einvernehmen der Völker Europas zu fördern? Oder ist das ein Luxus, den wir uns angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit und Armut in Süd- und Osteuropa nicht leisten können?

Die Förderung von Kultur und Wissenschaft ist ganz wichtig, und ein europäischer Wissenschaftsraum ist förderungswürdig. Aber gegenwärtig scheinen mir die sozialen Gegensätze innerhalb der Länder und zwischen ihnen vordringliche Probleme zu sein. Hier sollte man ansetzen, um zu verhindern, dass Europa noch weiter auseinanderdriftet. Denn Menschen, die unter Not leiden, ihre Arbeit verloren haben, Bürger aus der Mittelschicht, die Angst davor haben abzusteigen, sind eher empfänglich für neonationalistische Politik und Propaganda.

ZUR PERSON

Philipp Ther (*1967) leitet das Institut für Osteuropäische Geschichte an der der Universität Wien. Der Vorarlberger studierte in Regensburg und München, dann in Georgetown und war John F. Kennedy Fellow in Harvard. Sein Buch „Neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ über Ost- und Westeuropa nach 1989 (Suhrkamp, 2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im Herbst erscheint „Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)

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